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Qual der Wahl- Satire von Frank Herkommer im WILLI- Magazin

04.09.2009

Am 27. September ist es soweit: Deutschland wählt- und was mach ich? Eine heitere Angehensweise für das Magazin "WILLI" von Kolumnist Frank Herkommer

Qual der Wahl

Mann, was waren das für Zeiten, als es noch richtige Wahlkämpfe gab! Mit Themen, die polarisierten. Die erste Große Koalition, mit Plisch und Plum, Schiller und Strauß. Da ging es um die Konzertierte Aktion, um knifflige Wirtschaftsfragen, wie die Rolle der Bundesbank, die am Ende 1969 eine Wahl entschieden. Hätten wir doch noch diese Probleme! Und solche Wähler. 72 die Ostpolitik, Brandt gegen Barzel. Als sich in unserer Stadt Menschen nicht mehr grüßten, weil der eine ein kalter Krieger war und der andere den Ausverkauf deutscher Interessen betrieb. Kohls geistig moralische Wende, 82. Als mit den Kießlings aufgeräumt wurde. Und heute? Ich sage nur Westerwelle und Wowereit... Dann 90, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Lafontaine, der Buchhalter und Bedenkenträger. Kohl, der weiß, dass die Geschichte ihre Angebote nicht wiederholt. Schröder/ Fischer 98, das rot- grüne Projekt. Tägliche Nachbesserungen vorbehalten. Als kein Soldat in den Irak geschickt wurde. 2005, als zum ersten Mal eine Frau Kandidatin war, alle vorher Angie wählen wollten, um dann doch heimlich im Urnengrab politischer Hoffnungen ihr Kreuz hinter einem Mann zu setzen.

Wahlkämpfe mit Parteien, die sich wirklich unterschieden. Als für Protestanten nur SPD der FDP in Frage kamen und ein guter Katholik christlich wählte. Und heute? Ich weiß ehrlich gesagt einfach nicht, was ich wählen soll. Ob überhaupt. Protestant hin oder her.

Aber der Franz, der weiß es. Den werde ich fragen. Wechselwähler, also ohne Parteibrille. Wir treffen uns vor dem Tchibo. Er spielt den Quizonkel. „Wählen willst du? Mal schauen, ob du dazu überhaupt das Recht hast. Wer ist Brigitta Röthig- Wentz?“ Never heard. „Kulturredakteurin bei SWF 2? Die neue Ministerpräsidentenkandidatin für die SPD in Hessen?“ Franz zieht die Brauen hoch und schlürft genüsslich an seinem Kaffee. „Nächster Versuch. Wer ist Dirk Just?“ Fragen hat der! Ich versuche es auf die assoziative Tour. „Justitiar? Chemiker am Justus-Liebig- Institut?“ Langsam macht mich Franz nervös. Ich rühre schon meinen Kaffee um, obwohl der Zucker sich in meinen Adern und nicht in der Tasse befindet. Franz deutet den Hauch eines Lächelns an. „ Deine Antworten waren schon mal witziger. Jetzt wird’s ein bisschen leichter. Wer ist Alexander Ulrich?“ - „Ja, den habe ich schon mal gehört- Radfahrer, stimmts?“ Mein Strahlen erlöscht, die Selbstzufriedenheit im Gesicht von Franz ist unübersehbar. „Blödmann! Vorletzte Chance. Xaver Jung.“- „Verteidigungsminister? Nein? Bayrischer Diplomat am Vatikan?“- „Lass es! Gustav Herzog.“- Erleichtert atme ich auf. Unser Lautrer Bundestagsabgeordneter, von der SPD. Ja, wo ist denn mein Walter Franz Altherr geblieben, der Doktor von der CDU?

Franz klärt mich auf. Über die Direktkandidaten in unserem Wahlkreis 210. Frau und Doppelname sind der FDP zuzuordnen. Just ist justament ein Grüner (Männerquote!), Ulrich bekennender Linker, Jung hat Wortwitz und fordert auf, Jung zu wählen und damit die CDU, und Gustav möchte verhindern, dass Überhangsmandate die Wahl entscheiden und bittet dringend um die Erststimme. Ich räume ein: So uniformiert war ich noch nie. „Darf ich trotzdem wählen, Franz?“ - „Jetzt schon eher. Ist ja nur die Erststimme, die dir Probleme macht.“ Nur? Ich staune. Erste wie Reihenfolge. Das erste ist doch immer das wichtigste, das zweitrangige folgt dann. Das erste entscheidet. Zumindest im wahren Leben. Franz schüttelt mitleidig den Kopf. „Tröste dich, du bist nicht der Einzige, der diesem Irrtum aufsitzt. Die Erststimme entscheidet alleine darüber, wer den Wahlkreis in Berlin vertritt. Immer nur eine oder einer. Entscheidend ist die Zweitstimme. Die über die Parteien und ihre Mandatszahl entscheidet.“- „Wie? Ich dachte, Zweitstimme ist die Leihstimme?“ - „Wenn einer eine Stimme verleiht, dann ist es seine Erststimme. Wenn du nicht gerade in Kreuzberg lebst, ist die Erststimme für die Grünen genauso pure Symbolik wie bei der FDP oder den Linken. Weil deine Kandidatin oder dein Kandidat nichts davon hat. Mülleimer. Es kann nur einen geben. Herzog oder Jung.“ Okay, okay! Das hätte ich geschnallt. Aber die sollten das umstellen, auf den Wahlzetteln. Vorne die Partei, dann den Direktkandidaten. Und die Namen brauche ich mir auch nicht mehr zu merken. Nur noch zwei.

Ich sitze in meiner Stammkneipe. Rita seufzt hinter dem Tresen und kippt ein Hütchen. „Hoffentlich klappt das mit dem Regierungswechsel in vier Wochen.“ Ah, Chance auf Wahlhilfe. Argumente. Immer her damit. „Die FDP ist meine letzte Hoffnung. Sonst fragt doch niemand nach uns Mittelständlern. Die Steuern müssen runter, wir ersticken an Abgaben und Steuern. Überall Gängelung. Vorschriften. Du kannst niemanden mehr legal einstellen, da könntest du zu machen.“ - „Ja, und womit sollen wir unsere Schulden abtragen?“ frage ich in aller Naivität nach. Rita kommt in Fahrt. „ Den großen Konzernen nehmen sie keine Steuern ab. Da wäre das Geld zu holen. Die FDP ist die einzige Partei, die Subventionen kürzt. Wir kaufen die Wähler nicht, in dem wir immer neue Wohltaten verteilen, die künftige Generationen bezahlen müssen und die wir uns längst nicht mehr leisten können. Und außerdem. Wenn die Menschen wieder mehr in der Tasche haben, konsumieren sie mehr- und damit sprudeln die Steuern.“ Oh Rita, ich könnte dich knutschen. Jetzt weiß ich, was ich wählen werde. Zweitstimme, ich komme!

Stadtpark. Dritte Bank links. Der ältere Herr liest seine Rheinpfalz. „ Wenn ich das schon höre. Rente mit 67. Ich habe mein ganzes Leben als Dachdecker gearbeitet. Eigener Betrieb. Glauben Sie mir, das ist harte, mitunter gefährliche Arbeit. Da können Sie keinen mehr hoch schicken mit 67. Aber das wollen die ja auch gar nicht. Die wissen genau, dass viele lieber vier, fünf Jahre von Hartz IV leben, als mit den kaputten Knochen bis ans bittere Ende zu arbeiten. Um dann, nachdem ihnen alles weggenommen wurde an Rücklagen und Versicherungen, eine kleine Rente zu beziehen. Die sollte lieber die Milliarden sparen, die sie in Afghanistan raus schmeißen. Und junge Menschen sterben für Drogenbarone und religiöse Auseinandersetzungen. Ich wähle die LINKE. Die einzigen, auf die ich mich da verlassen kann.“ Alter Mann, du hast mich überzeugt. Jetzt weiß ich ganz sicher, was ich wähle.

 

Schön hier auf dem Schillerplatz. Ich genieße meinen Milchkaffee. Sascha setzt sich an meinen Septembersonnentisch. „Hast du das gehört? Diese Atommafia. Gutachten werden gefälscht, Plutonium kriminell gelagert. Und keiner weiß, wohin mit dem tödlichen Dreck von Asse und Gorleben. Was wurden die Grünen verteufelt, der Untergang des Industriestandorts Deutschland. Hätten wir nur noch mehr auf die gehört. Dann wären unsere Autos Nummer eins in der Welt und nicht die Japaner. Ohne Grün kein Leben!“ So kenne ich dich ja gar nicht. Aber Recht hast du. Ich wähle Grün.

Im Bus auf den Betzenberg. Die Dame neben mir hat einen CDU- Flyer in den Händen. „Das ich das noch erleben durfte. Angela Merkel die mächtigste Frau der Erde. Wie sie uns durch die Krise führt. Was heißt uns? Die ganze Welt. Geachtet in Amerika wie in Russland. So klug, diese Frau. Und Charakter! Kein böses Wort, keine Herabsetzung des politischen Gegners. So sehr man sie auch provoziert. Liberal, aber nicht beliebig. Frauenfreundlich, sogar die Schwarzer schätzt sie. Konservativ, aber nicht klerikal. Sozial, aber nicht sozialistisch. Ein Segen für die politische Kultur in Deutschland.“- Wow, Angie, meine Stimme hast du.

Schau an, der Michael verteilt SPD- Blättchen. Es gibt sie also noch. „Wir haben doch die Merkel erst zum Star gemacht. Ohne uns wäre knallhartes Leipzig. Sozialabbau ohne Ende. Arbeitnehmerrechte runter gefahren. Die Reformen haben uns um Millionen Stimmen gebracht. Wie haben das für Deutschland gemacht. Der alte Sozialstaat war am Ende. Obwohl wir dadurch die Linken mit ihren unerfüllbaren Forderungen erst stark gemacht haben. Die große Koalition trägt unsere Handschrift. Das muss so bleiben.“

Michi, du machst mich wahnsinnig. Der fünfte, der mich überzeugt.

Ich gehe gar nicht wählen.

Was ist das da vorne? Die Nationalen. Weltanschauungspartei. Das hatten wir schon mal. Seitdem ist Deutschland ein Drittel kleiner, gab es 44 Jahre die Trennung und die Mauer, im Krieg starben 60 Millionen Menschen, wurden unsere schönsten Städte in Schutt und Asche gelegt, die Seelen traumatisiert, Millionen vertrieben. Ich gehe wählen: Wen auch immer. Nur eines steht fest: Euch nicht. Bodensatz muss unten bleiben.


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