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24.4.2024 : 10:53 : +0200

Norma am Pfalztheater Kaiserslautern - Tödlicher Frieden

08.07.2009

Für das Willi-Magazin rezensiert Frank Herkommer die Belcanto-Oper von Berlini. Er erklärt auf originelle Weise, was gioia fisica bedeuten könnte.

Mein starkes Stück: Norma- Oper von Vincenzo Bellini

Tödlicher Frieden

Kennen Sie noch das Märchen von einem der auszog, das Gruseln zu lernen? Richtig, am Ende zappeln die kalten Fische auf seinem Leib und lassen eine Ahnung aufkommen, wie sich der eigene Leichnam anfühlen wird. Der Tod ist unterwegs, sein Ziel bist du. Einfach gruselig! Sie möchten in Erfahrung bringen, was gioia fisica bedeutet (italienisch, wörtlich: körperlich zu spürende Freude)? Vergessen Sie die beiden anderen Königswege- Erotik und Rausch. Nicht Weib, nicht Wein- es ist der Gesang! Genauer gesagt Belcanto (den hat nämlich der große Rossini als gioia fisica charakterisiert). Im Besonderen Bellinis Norma. Das finale furioso der Saison 08/09 am Pfalztheater, für das man alle Sommerfreuden dahin geben möchte, nur damit es endlich November wird und die Wiederaufnahme ansteht.

Eine Geschichte, die es in sich hat. Psychogramme, die noch wochenlang zum Nachdenken anregen. Eine Besatzergeschichte. Die das Lied vom „tödlichen Frieden“ singt. Fraternisierung verboten. Kommt jedem älteren Lauterer, der die Nachkriegsjahre noch miterlebt hat, bekannt vor. Eine Konstellation, die bereits zu Asterixzeiten zu dramatischen Konflikten geführt hat- als die Römer Gallien besetzt halten. Hier lässt Bellini seine Norma spielen. Was für ein geschickter Schachzug in Zeiten des Risorgimento, des italienischen Vormärz. Römer =Italiener als die Feinde der Freiheit, nicht als ihre Vorkämpfer. Die vereinte päpstliche und österreichische Zensur bleibt stumm. Das Herz der Italiener jubelt. Meister-Regisseur Thomas Wünsch (meine Besprechung seiner 2008er „I Masnadieri“- Inszenierung am Münchner Gärtnerplatz nachzulesen auf opernnetz.de) gelingt es, jede Historisierung zu vermeiden, Interpretationsfreiräume zu schaffen, er macht das Angebot, eigene Assoziationen einzulesen. Von „Vor der Kaserne, vor dem großen Tor“ über Résistance und Bella ciao, von jüdischem Ghetto über die Jagd auf „Besatzerhuren“ bis zur Medea, die aus Rache ihre Kinder tötet, alle Grundmuster werden zitiert, keines aufgedrängt. Einmal mehr unglaublich kreativ und einfühlsam Heiko Mönnich, zuständig für die Kostüme und das Bühnenbild. Die ganze Tristesse einer verlorenen Stadt kommt zum Ausdruck, ohne dem Zuschauer aufs Gemüt zu schlagen. Die intensive Darstellung von Seelenfarben, wie sie dieser Inszenierung gelingt, verträgt keine Verstärkung durch opulente Bühnen- und Kostümgestaltung. Die Umbauten innerhalb des einen Hauptmotivs verändern blitzschnell die Perspektiven, mal vor der Mauer, mal dahinter, das Leben gleicht einem Versatz-Spiel. Hier ein Anbau, da ein Tor, und jeder versteht sofort, was gemeint ist.

Wie so oft, ist es die Liebe zwischen Mann und Frau, die die starre Einteilung in Besatzer und Besetzte unterläuft. Und sie stellt das Material für Tragik, Verrat und Erlösung. Ein Mann, zwei Frauen. Norma, die bildschöne Tochter der grauen Eminenz Oroveso, hat eine heimliche liaison fatale ausgerechnet mit dem Kommandanten der verhassten Besatzer Pollione. Zwei Kinder das verheimlichte Produkt. Die Liebe ist ein seltsames Spiel, dessen Regeln die Männer nicht immer einhalten. Der Kommandant verliebt sich neu,der alte Wiederholungszwang, Adalgisa ist jünger, das gibt den erhofften Kick. Allerdings zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Der Widerstand plant Polliones Ermordung. Eine entscheidende Rolle ist dabei der Verlassenen zugedacht. Weibliche Rachephantasien, männliche Trotzreaktionen, Untergangswünsche, Überhöhung des zugefügten Leidens durch das Opfer des eigenen Lebens, Nachreife des Mannes, keine der großen existentiellen Fragen bleiben ungestellt. Nichts ist eindeutig, alles denkbar. Die Schlusspointe: Einvernehmlich stirbt es sich leichter.

Was für eine glückliche Hand, die Thomas Wünsch und sein Dramaturg Andreas Bronkalla bei der Auswahl des Ensembles zeigen! Schon in den kleinen Rollen, Katrin Sander gibt Klothilde Gewicht und eine ansprechende Stimme, Jung Baik Seok in der Rolle des Flavio so gut, dass man ihn gerne länger hören würde. Erst Recht Idealbesetzungen bei den Stargästen. Rossella Ragatzu, der es einzig schwer verfällt zu vermitteln, warum man(n) eine solche Frau verlassen sollte. Ihre ganze Haltung erzählt von Würde,Stolz und Selbstachtung. Noch im verletzten Zorn eine letzte Distanz, Bewahrung ihrer fraulichen Autonomie. Eine Stimme aus einer anderen Welt, so schön. Belcanto, keine aberwitzige, bloße Stimmartitistik, das Publikum staunt wie bei einem Hochseilartisten und lauert, ob und wann er abstürzt, Belcanto bedeutet hier Dramatik, Ausdrucksstärke und angewandte Seelenkunde. Die Duette so brillant, dass man nie wieder aus dem Theater möchte. Weitere Stargäste: George Oniani als Pollione. Der die Reifungsgeschichte eines Midlife- Krisenmanagers so erzählt, dass man anfangs fragt: Fehlt es an darstellerischen Mitteln oder ist das gewollt? Das Finale gibt die eindeutige Antwort: Ein großer Interpret, mit einer Stimme, die über feinste Technik, unglaubliche Höhen und exzellenten Klang verfügt. Jon Pescevitch, in der dritten tragenden Rolle des Orovesos, der die Hinrichtung der eigenen Tochter anordnen muss. Wie er die Zerrissenheit darstellt, ergreifend! Seine mächtige Stimme bringt das Publikum ebenso zu standing ovations wie die Leistung des gesamten Ensembles. Wie würde sich Adelheid Fink, Mitglied des PT-Ensembles, in diesem Weltklasseumfeld präsentieren? Absolut gleichwertig. Nie war sie besser als jetzt! Die Stimme hat sich in den letzten Jahren unglaublich weiter entwickelt. Jubelnd, Akzente setzend, jeder Ton erzählt von einem Gefühl, ihre Körpersprache lässt sie so präsent wirken, dass der Unterschied zwischen Rolle und Person aufgehoben scheint. Ein Studienobjekt für Marcel Proust. Ich bedaure für uns Lautrer, es sagen zu müssen: Reif für höhere Aufgaben.

Fein der Regieeinfall, Flötenspielerin Sophie Barili aus dem Graben auf die Bühne zu holen

Andreas Hotz, Achenbachs Wiedergänger, verzückt alle Musikfreunde durch ein Dirigat, das dem Orchester des Pfalztheaters die besten Töne entlockt. Gerade Belcanto-Musik führt in die Versuchung, in einen Wettlauf zwischen Orchester und Sängerensemble zu treten. Hotz dient, führt, begleitet, untermalt, bringt Instrumente und Stimmen in Einklang und auf eine Höhe. Auch durch ihn ein wunderbarer Abend!

Gioia fisica? Norma! Reitmeier-Tempel! Stürmen Sie die Kasse , wenn ab 1. September es wieder heißt: Willkommen im Pfalztheater! Und wenn sie noch jung genug sind, werden sie gioia fisica als einfach geile Musik übersetzen.

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Frank Herkommer

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