Sie sind hier: Rezensionen
20.4.2024 : 6:44 : +0200

Der Glöckner von Notre Dame am Pfalztheater Kaiserslautern

31.05.2010

Die Inszenierung von Murat Yeginer beobachtet Frank Herkommer für die Juni-Ausgabe des Willi-Magazins. Wie Intendant Johannes Reitmeier schätzt der Kolumnist die Aufführung ein: Herrliches Sommertheater!

Mein starkes Stück: Der Glöckner von Notre Dame

Vorbilder

Es gibt sie noch, die großen existentiellen Entscheidungen. Man kann nicht zwei Herren dienen, das lehrt schon Goldoni. 05 oder FCK. Frank Nimsgern oder Vanden Plas. Sinalco oder Bluna. Anthony Quinn oder Charles Laughton. Maureen O'Hara oder Gina Lollobrigida.

Für wen wird sich Murat Yeginer entscheiden, Gastregisseur am Pfalztheater, der den Glöckner von Notre Dame auf die Bühne bringt? Als bekennender Laughton- Jünger, als schmachtender O'Hara – Verehrer kann ich eine gewisse Nervosität nicht unterdrücken, als der Vorhang sich hebt. Mit der Projektion der beiden Skelette, die der Legende nach aufeinander liegend gefunden wurden.

Ja! Mein Quasimodo! So bucklig und wasserköpfig wie der Göttliche, die selbe ausgedünnte Restfrisur, der treue Ein-Auge-Blick, die personifizierte leidende und liebende Kreatur. So Mitgefühl erheischend, so nuanciert wie in der 39er Vorlage. Oliver Burkia rührt die Herzen an, ohne zum lächerlichen Abklatsch, zum bloßen Nachäffer des Unvergleichlichen zu werden. Ähnlichkeiten sind durchaus gewollt, Burkia hat ein Vorbild, dem er vorbildlich seine eigene Schauspielkunst folgen lässt. Er alleine sollte schon die Schlangen an der Theaterkasse anwachsen lassen.

Murat Yeginer spult nicht die Filmvorlage(n) ab. Man kennt ja die Geschichte. Darum werden die einzelnen kleinen Geschichten auf besondere Weise erzählt. Geniales Sommertheater! Jede noch so unscheinbare Rolle bekommt ihren eigenen, erstaunlich ausgeprägten Charakter. Prinzip Kolportage. Yeginer eröffnet den Blick für das Nebenbei, für die Randfiguren. Die Bühne dreht sich (Jürgen Höth hat sie ausgestattet), aber eben nicht nur um die Hauptfiguren.Womit wir bei den wirklich großen existentiellen Fragen wären, bei der Froschperspektive, aus der nach Walter Benjamin Geschichte wahrgenommen werden müsste, wenn je eine menschenwürdige Gesellschaft entstehen soll.

Der Regisseur, unterstützt von zwei starken Frauen, den Dramaturginnen Christina Alexandridis und Isabelle Fabian, nimmt mit schelmischem Augenzwinkern Brechungen vor. Wenn der großartig und ernsthaft aufspielende Jan Henning Kraus, Erzdechant und erzdurchtrieben, eben noch eines Gründgens würdig philosophiert, räsoniert und intrigiert, um vom quirligen, überlebenssüchtigen Markus Kloster, dieses personifizierte Quecksilber, in der Rolle des Pierre Gringoire kontrastiert zu werden, der selbst als zu Hängender die Lacher provoziert. Was immer Daniela Auer, einsatzfreudige Statistin, in seiner Unterhose gesehen hat, gelacht hat sie jedenfalls nicht. Im Unterschied zum begeisterten, erfrischend jungen Publikum. Antje Weiser, schnoddrig-freche Kupplerin, mit der Dauerschwangerschaft und dem Hintern eines Brauereipferdes, schnell bereit, dem Aberglauben Menschenfleisch zu opfern.Wenn Hannelore Bähr, eben noch als große Mutter Courage und subtile Brecht- Interpretin auf der Bühne, jetzt als zerlumpte Gudule in Esmeralda ihre Tochter erkennt, herzzerreißend spielt und der Zuschauer dennoch nicht weiß, wird hier Hedwig Courths- Mahler auf den Arm genommen, soll er seine Tempos für Lach- oder Mitleidtränen zücken. Alle Kostüme liebevoll und detailversessen von Beate Zoff kreiert.

Wer das Ensemble der Schauspielsparte noch nicht kennt, hat die einmalige Chance, fast das gesamte Team kennen zu lernen. Mit Namen zukünftig Gesichter und Stimmen zu verbinden. Wie mit Marion Fuhs. Ein Name, den man sich spätestens seit „Verbrennungen“ in dieser Spielzeit merken sollte. Wo sie sich gemeinsam mit „Bruder“ Daniel Mutlu einen Stammplatz im Herzen des Lauterer Publikums erobert hat. Endlich eine Esmeralda, die minderjährig sein darf. Wie in Viktor Hugos Vorlage. Weder eine O'Hara noch die Lollo. Zart, arglos, verführbar, hingebungsvoll, keine Zigeunerromantik, eher Frühlingserwachen, das ideale Opfer für - Daniel Mutlu. Fescher Hauptmann Phöbus, mit dem Schwanenhelm, in der Apollo/Phöbus-Mythologie stimmt ein schwarzer Schwan den Sterbegesang an, der Frischfleisch sucht und Liebe heuchelt. Später von X gemeuchelt. Aber das sehen Sie besser selbst.

Köstlich durchtrieben Rainer Furch als Schnorrerbruder Jean, der weiß, wie man dem Dechanten die Dukaten aus dem Beutel schneidet. Peter Nassauer, Urgestein am Haus, ein wunderbarer Ludwig elf, zwischen Schöngeist, Philosoph und Reaktionär. Henning Kohne ein König der Bettler, der mit seiner gesammelten Autorität und absoluten Präsenz den Saal rebellisch machen könnte. Reinhard Karow, der taube Richter, dem man nicht in die Hände fallen möchte, herrlich komödiantisch, um dann von einer Sekunde auf die andere seine Gefährlichkeit aufblitzen zu lassen. Zwischen durchtrieben und technokratisch Dominique Bals in der Rolle des königlichen Anwalts. Den niederländischen Einschlag trefflich artikuliert Michael Klein, sich ebenso wenig zu schade für eine kleine Rolle wie die große Susanne Ruppik als Gaunerin.

Sie kennen schon den Glöckner? Fünf mal jeden Film gesehen? Sie kennen ihn nicht. Nicht so. Nichts wie hin, sonst sind die Tickets mal weg!

Ihr Kulturbeutel Frank Herkommer

Aktuelles