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Novembergedenken. Tod und Ewigkeit

01.11.2007

Einen Rückblick voller Empathie, einen Einblick in seine Arbeit als Trauerredner gewährt Frank Herkommer mit diesem Beitrag für das Magazin WILLI

Novembergedenken



Eine unsichtbare Demarkationslinie teilt die Welt ein in zwei Lager. Auf der einen Seite Menschen, die in der zerbrechlichen Unschuld jener leben, denen der Tod noch niemanden Nahestehenden für immer genommen hat. Die diese Erfahrung unserer Endlichkeit, der verwundeten Trauer noch vor sich haben. Fähig und eingeladen zur unbekümmerten Leichtigkeit des Lebens. Auf der anderen Seite Menschen, die bereits Abschied nehmen mussten, deren Empfindungen Mascha Kaleko in die wunderbaren Verse gefasst hat:


„Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,

Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.

Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?“


*


November. Die Uhren gehen wieder anders. Die Dunkelheit breitet sich aus, vertreibt uns aus vormals nachtwarmen Gärten und lädt ein, die Innerlichkeit zu pflegen. Dort, wo unsere Toten ihre Heimstätte haben, auf dem Grund unserer Seelen.


Meine anvertrauten und mir vertraut gewordenen Toten. Trauerredner. Alles, nur kein Job. Keine Routine, keine gestanzten Worte. Keine Worthülsen, die viel Arbeit sparen, aber wenig sagen. Hinter jedem Tod ein einmaliges Leben. Ein Schatz, den es zu bergen gilt.

 

Wieder habt Ihr meine Seele bereichert. Durfte ich Einblick nehmen in das, was Eure Würde und Eure Besonderheit, Eure Siege und Eure Niederlagen, Eure Opfer und Euer Verlangen, Euren Stolz und Eure Demut ausgemacht hat.


Trauernde sind Fürsprecher. Sie haben mich ein bestellt, um von Euch zu erzählen. Von Eurem Sterben, viel mehr noch von Eurem Leben. Erste Gehversuche, aus der lähmenden Sprachlosigkeit heraus zu finden. Die stereotype Zusammenfassung am nimmer müden Telephon zu übersteigen. Den Blick wieder weg vom Ende hin aufs Ganze zu richten.


Fragmentarisch, aber wesentlich. Meine Worte werden versuchen, Euch ein Gesicht zu geben. Euch wieder erkennbar zu machen. Nicht ungewürdigt zu lassen, was Euer Leben einmalig und unverwechselbar gemacht hat. Das scheinbar Selbstverständliche als das Besondere erkennen. Im Kleinen und Unscheinbaren den Abglanz der großen Wahrheiten.


Meine Toten. Spektakulär und unscheinbar. Oft beides in einem. Mit fließenden Übergängen.


*


Da ist der kleine, lebensfrohe Junge, der in der Weihnachtszeit letztes Jahr unbeobachtet mit Kerzen spielte und das T-Shirt fing Feuer. Als der Sechsjährige in der Mannheimer Unfallklinik aus dem künstlichen Koma erwacht, beginnt eine Staffel von Hauttransplantationen an Brust und Innenarmen. Das kann seiner Lebensfreude, seiner herzlichen Mitteilsamkeit, seiner strahlenden Unbekümmertheit keinen Abbruch tun. Über die Monate schreibt er sich ein in die Herzen der Ärztinnen und Ärzte, des gesamten Pflegepersonals, wenn er, statt umgekehrt, wie zu erwarten wäre, ihnen Mut macht: „Das wird schon wieder!“

Der Junge, der den Sommer so liebt, legt allen großflächigen Narben zum Trotz im Freien ungeniert das Unterhemd ab, um plantschen zu können.

Dann, ein gutes halbes Jahr später, das tragische Ende. Das Kind stirbt, ohne jede Vorankündigung, in den Armen seiner machtlosen Mutter.

Von ihr wird schier Übermenschliches verlangt. Sie soll sich entscheiden, ob andere Menschen mit den Organen des hirntoten Jungen eine Chance auf Leben bekommen. Keine Zeit bleibt ihr, in der sie die Seele beim Auszug aus dem Leib ihres Kindes begleiten dürfte.

Unerkannte, unscheinbare Heroine mitten unter uns. Sie gibt den Körper, dessen Herz noch schlägt, frei. Drei Kinder und ein Erwachsener leben von da an mit seinen kleinen Organen weiter. Nicht, dass damit sein Tod einen Sinn machte, aber sein Leben schon.


Mitten in unser Vorbereitungsgespräch für die Trauerfeier platzt der Polizeianruf: Die Staatsanwaltschaft ordnet Obduktion an, weil der Tod des Jungen in einem rein formalen Kausalzusammenhang mit dem damaligen Brandunfall stand. Der Bestattungstermin muss verschoben werden. Es ist nichts mehr da, was man obduzieren könnte. Der tödliche Schleim auf den kleinen, transplantierten Lungen längst abgesaugt. Der Einwand trägt nicht. Kafka. Dem Gesetz muß Genüge geleistet werden. Auf die Gefühle einer Mutter nehmen Paragrafen keine Rücksicht.


Sie bleibt gefasst, voller Würde, gesammelt. Ihren Schmerz und ihre Verwundung trägt sie in sich selbst aus. Ihre kleine, zehnjährige Tochter wird nicht ohne Halt sein in diesen schweren Tagen. Für den Jungen wählen wir das Wort : „Es zählen nicht die Jahre in unserem Leben, es zählt das Leben in unseren Jahren.“ Wir erzählen von dem Leben, das er in die Welt gebracht hat. Von seiner Lust am Tanzen etwa, an der kreisenden Bewegung, die uns davon erzählt, dass sich Himmel und Erde um die Kinder drehen sollten.

Er ist mir nah und ich verstehe, warum nach Auffassung des Nazareners Kinder den Erwachsenen den Himmel erschließen können.


*


Meine Toten.

Ich bin der Auffassung, jeder sollte seinen ganz persönlichen Schnorrer haben. Damit er nie vergisst, wie sein eigenes Leben auch hätte verlaufen können. Marie Luise Kaschnitz- „O die vielen Leben, die man hätte leben können, diese vielen schrecklichen Leben.“

Mein ganz persönlicher Schnorrer war bis vor wenigen Monaten ein Stadtgesicht. Jeder echte Lautrer kannte ihn, wenn er mit seinem Rucksack entgegen humpelte, schon strahlend in Erwartung des kleinen Obulus. Trinkgeld im besten Wortsinn. Mein Schnorrer brauchte keine moralische Belehrung, er brauchte sein Bier. Kein Regen und kein Schnee konnten ihn in seiner Wohnung fest halten (ja, er hatte tatsächlich eine eigene Wohnung).Viele Menschen mochten ihn, einige Künstler tranken sogar ein letztes Glas Prosecco auf sein Wohl, als sie von seinem plötzlichen Tod erfuhren. Andere hatten über die Jahre Spaß daran, ihn zu quälen. Je näher die Möglichkeit, selbst einmal auf der Straße zu landen, desto größer der (Selbst-)Hass.


Schon von weitem sah er einen, unmöglich, ihm und seiner Fußgängermaut zu entkommen. „Ach, is des heit langweilig!“ Sein Seufzer, wenn er alleine im Regen stand.

Dann im Sommer der Anruf vom Bestatter. Mitte vierzig? Es wird doch nicht meiner sein? Er ist es. Nach Tagen tot aufgefunden in der Wohnung, offensichtlicher Sekundentod. Genug Geld auf dem Konto, um die Bestattung ohne Inanspruchnahme des Sozialamts zu bezahlen.

Sapperlot! ärgere ich mich. Ein paar Tausend auf der hohen Kante und lässt sich von mir sein Bier bezahlen.

Als sich der erste Verdruss gesetzt hat, muss ich herzlich lachen. Eine Köpenickiade von unten sozusagen, und das bei uns in Kaiserslautern. Einer, der tief stapelt, der sich ärmer machte als er je war. Kein Penner, kein Assi, kein Männerwohnheim oder versiffte Matratze in der Karstadtpassage. Sein Lebensraum, seine Familie, das war die Innenstadt. Die Sitzbank, sein Empfangszimmer.

Wir sind unter uns bei der Beerdigung. Seine zahlreichen Geschwister. Deren Familien. „ Von den Leben die Hellen, von den Toden die schnellen“ Brecht als Lesung.

Ich erzähle von dem Unfall als kleiner Junge, in dem beides so konzentriert sichtbar wird: Seine unbändige Lebensfreude, das Matratzenspringen von der Mauer im Hof, und die Tragik, vom LKW, der ihn überfährt, der Unbekannte, der Fahrerflucht begeht. Der zerschmetterte Fuß. Die Erinnerung, dass alles die ersten neun Lebensjahre ganz anders war. Das macht ihn lange wütend. Bis er sich mit dem Leben arrangiert. Nach vielen Versuchen, sein Stück vom Glück zu erlangen. Behindertenwerkstätte und Wohnheim. Nicht sein Ding. Schließlich vom Finden seines Wegs, die Straße. Eine eigene Wohnung, eigenes Geld, eigene Tagesplanung.


Und wieder macht mich einer meiner Toten reicher. Belehrt mich, dass Glück ganz auch andere Wege nehmen kann als jene, die wir für alleine zielführend halten.


*


Novembergedenken. Zeit, die Seele zu öffnen. Aus der herrlichen Sommerzerstreuung in die Sammlung des dunklen Halbjahrs über zu gehen. Unsere Toten nicht zu fürchten und zu meiden. Ihnen zu begegnen. Mit ihnen zu lachen. Noch einmal zu spüren, wie gut sie uns getan haben. Wie viel von ihnen noch in uns steckt. Worte, die aus ihrem in unseren Sprachschatz übergegangen sind. Ansichten, die uns überzeugt haben. Gesten, die wir weiter tätigen.

Ach, wie soll ich leben, fragt Kaleko, wenn ihr nicht mehr da seid? Nun, ihr seid doch da. Anders, aber doch da.

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