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27.4.2024 : 18:52 : +0200

Puccinis La Bohème am Theater Trier

01.02.2012

"Schlüsselszenen" nennt Frank Herkommer seine Rezension für Opernnetz, Europas meistgelesenes Musikmagazin im Netz

Schlüsselszenen

Die berühmte Schlüsselszene zu Beginn: Mimi am Boden, gemeinsam mit dem unbekannten Poeten im Dunkeln auf der Suche. Die Kerzen sind sämtlich erloschen, doch Regisseur Benedikt Borrmann lässt die Beleuchtung an, auch beim ersten heftigen kurzen Kuss. Minuten später: Rodolfo und die Blumenstickerin bekennen sich ihre Liebe. Und das Licht zieht sich diskret zurück, ein schwacher, alles verzaubernder Schimmer liegt über der sonst recht unromantischen Bohème einer Bretterbude, eine Stimmung, die der Zartheit des Augenblicks entspricht. Das ist die eigentliche Schlüsselszene der behutsamen und einfühlsamen Inszenierung, genauso für Puccinis Anliegen, der Poesie der Liebe aufzuhelfen. Poeta trifft auf Poesia. Es gelingt Borrmann, diese Geschichte so einfühlsam zu erzählen, dass er das ihr nachgesagte Klischeehafte übersteigt.  Den großen musikalischen Tönen mischt er erzählend die leisen Töne bei. Diese Bohème zeigt die Verletzlichkeit auf, die in der generellen Zuordnung von Liebe und Tod ihren Grund hat.  Borrmann bleibt im Paris des 19. Jahrhunderts, ohne deshalb historisierend oder bieder zu wirken. Jeder kennt die Geschichte und hat doch das Gefühl, sie neu mit zu leben, mit zu erleiden.

Zweite Schlüsselszene. Mimi stirbt einen leisen, unaufgeregten Tod. Und die Musik schweigt, gibt dem Augenblick seine Würde und Pietät. Personenführung, aus der generell der tiefe Respekt vor den Sängerinnen und Sängern zu spüren ist, die vor der kleinen Bühne nicht kapituliert, den gut besuchten Jahrmarkt vor das Café holt, Kinder und Erwachsene, und nichts wirkt gedrängt. Dann herrscht wieder Mut zur Konzentration aufs Wesentliche, niemand muss die besungene, auch da nur marginal erwähnte Eifersuchtsszene zwischen Musetta und Marcello sehen, wenn sich gerade wahrhaft Großes und Tragisches zwischen Mimi und Rodolfo zuträgt.

Die Bühnenausstattung von Manfred Breitenfeller hätte es sich leichter machen können, die Vorteile der Drehbühne drei Mal nutzend. Um der großen Szene im dritten Bild willen, als die ganze Welt nur noch aus zwei Personen besteht, baut er um, eine Litfaßsäule  genügt, hinter der Mimi ihr Urteil vernimmt. Breitenfeller verzichtet auf jede pompöse Überzeichnung, er dient der Geschichte, ohne seine ästhetischen  Ansprüche zu reduzieren. Ein Kasten voller Bierflaschen, der nach der Trennung von den beiden Grisetten Mimi und Musetta leer ist, wie die davor stehenden Pullen, so kann man mit leichter Hand, wie nebenbei Botschaften übermitteln.

Die vielgestaltigen Kostüme sind aus der Kreativabteilung von Carola Vollrath: Mal schlichte Eleganz, dann wieder ein Heer bunter Grisetten, ohne Tendenz zum Vulgären, das Volk im Sonntagsstaat, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten voneinander klar abhebend, die Kinder fein herausgeputzt, der kleingewachsene Parpignol könnte genauso in den Enfants du Paradis auftreten, keiner der vier aus der Männer-WG wird in ein berufskündendes Kostüm gesteckt. Leger und locker ist angesagt, es sind Bohèmiens eben. Die beiden großen Frauengestalten sind so erotisch und figurbetonend gekleidet, dass man die Eifersüchteleien ihrer Männer gut nachvollziehen kann.

Das Orchester unter Leitung von GMD Victor Puhl spielt in Hochform und wird zu Recht vom Premierenpublikum frenetisch gefeiert. Die Tempi sind einfühlsam mit denen auf der Bühne abgestimmt, kein singender Protagonist wird übertönt, die Spannung zwischen savoir vivre und nicht wissen, wie das rechte Leben auszusehen hat, sie findet in der dezenten Intonation ihren Ausdruck. Das Dramatische wird nicht überdramatisiert, das Überschäumende nicht gebremst. Die Chöre beeindrucken durch Gesang und Choreographie. Angela Händel und Thomas Trabusch leisten erfolgreiche Arbeit am Trierer Theater.

Vier  Besetzungen entscheiden über Erfolg und Misserfolg einer Bohème-Inszenierung. Rodolfo und Mimi, Marcello und Musetta. Vier Mal hat Borrmann eine vorzügliche Wahl getroffen, indem er den Hauskräften vertraute.  Svetislav Stojanovic ist ebenso Ensemblemitglied in Trier wie Joana Caspar, Carlos Aguirre und Evelyn Czesla, sie sind die Trümpfe dieser Inszenierung. Dazu kommen mit Alexander Trauth und Pawel Czekala weitere Hauskräfte für die mittleren Rollen.  Ein erstaunlich hohes Niveau ist das für ein kleines Haus. Stojanovic beeindruckt mit seinem eleganten Tenor, ein Rodolfo, dem jedes falsche Pathos abgeht, Joana Caspar ist eine verstörend fragile Mimi, deren klangschöner Sopran den Zugang zu den innersten Bezirken der Seele findet, zu Beginn noch ein wenig zu sehr tremolierend, in den Bildern zwei bis vier überwältigend, weil klar. Evelyn Czeslar gibt eine erfrischend freche Musetta, schauspielerisch und sängerisch unglaublich variationsfähig, die Stimme äußerst kultiviert. Grandios ist Carlos Aguirre als eifersüchtiger Maler Marcello. Der Mexikaner ist ein weiterer Glücksgriff für das Haus in der Moselstadt. Sein strahlender Bariton überschreitet mühelos die Grenzen zum Tenor. Schaunard, der Musiker, wird dargestellt von Alexander Trauth, der junge Bariton mit einer einschmeichelnden Stimme. Seinen kräftigen Bass setzt Pawel Czekala gekonnt ein in der Rolle des Philosophen Colline. Herrlich komödiantisch ist Carsten Emmerich in der Rolle des verjagten Hausherrn Benoît, später auch als Zöllner. Andrea Azzurrini ist filmreif in der Rolle des Parpignol. In den Kleinrollen des Alcindoro und des Sergeanten gefällt Tim Heisse.

Das Publikum ist begeistert. Was in Trier nicht unbedingt die Regel ist – die Seitengespräche sind an diesem Abend nicht zu hören, alles lässt sich verzaubern von einer bis ins Innerste ansprechenden Opernaufführung.