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Not I- Nicht Ich

02.06.2011

Andreas Bronkalla geht mit dem Pfalztheater ins Museum- Frank Herkommer beschreibt auf opernnetz.de eine beeindruckende Inszenierung. Susanne Ruppik und Elise Kaufmann spielen und singen überragend.

Something and nothing to tell

Pfalzgalerie. An den Wänden des Museums einige wenige zeitgenössische Artefakte. Konzentration und Kontemplation. Reduzierungen, Verfremdungen, Positionen, Versetzungen in ein anderes Genus. Eine Inschrift: „Nos amis“. Daneben eine rostbraune, konvex gewölbte Fläche, zwei längs gezogene dunkle Striche, atavistische Bannung der Seele, der dabei das Geheimnis nicht abhanden kommt. Korrelierend mit dem Beckettschen Surplus. Dieses nicht Aufgehenwollen in der Glätte und nur scheinbaren Schlüssigkeit von Sprache, Musik und Abbildung. Überschuss, das tertium comparationis der drei an diesem Abend zu erlebenden Kunstformen. Mehr Sein als Schein. Die bildenden Kunstwerke ideal, um die Korrespondenz zwischen zwei Frauen und einem Raum zu ermöglichen. Regisseur Andreas Bronkalla stellt Verbindungen her, liest den Raum, erkennt die Zeichen an der Wand, zeigt sich als behutsamer und einfühlsamer Etheologe. Eine Stellung, ein Blick - und der Text knüpft an. Nimmt den Raum auf. Bronkalla ist, assistiert von Axel Gade, ein feiner Wurf gelungen. Alles passt: Raum, Stück, Ausstattung, Künstler, Regie.

Der Saal in der Pfalzgalerie selbst ein Kunstwerk, das zur Assoziation Heilige Halle einlädt. Hoch genug, um der Seele eine Begegnung mit sich selbst zu erlauben. Weiß, ohne Hauch von Sterilität, zwischen Hinweis und Erhabenheit. Abgestuft, sich nach oben verjüngend, selbst die Fenster auf der Galerie weiß überstrichen. Unten ein überdimensionaler Sandkasten Erde. Weiß gerahmt, grauer Filz, flächendeckend, eingenäht zwei Verhüllungen samt Kapuzen, seitlich Rollen, die den Eingehüllten ein Ausschreiten erlauben. Um am Ende der Performance aus sich herauszutreten: Liebe, und zeigte sie sich im Entstummen, das Geheimnis der Erlösung, die den Existentialismus vor dem Abgleiten in den Nihilismus bewahrt. Rot wie das Kostüm. Die Ausstattung von Claudia Weinhart konzentriert, ästhetisch, dem Raum angemessen, dezent, dienend und klug.

Schon läuft das digitalisierte Tonband. Überschneidungen deutscher und englischer, gesprochener und gesungener Worte und Wortfetzen. Herzklopfen als Leitmotiv.

Das Amorphe bekommt Gestalt. Der große Auftritt der Susanne Ruppik. Die sich sprechend über die Erde erhebt, über das Chthonische unserer Existenz. Der Text unlernbar. Sie beherrscht ihn. Sie zelebriert ihn. Sie leidet ihn. Sie ringt um ihn. Ihr Körper erzählt durch das raue Gewand. Stolzes Sichwidersetzen, dann wieder in sich gekrümmter Mensch, hier aufrechter Gang, da tastend, fragend, fragil. Leinernes Stirnband, das Haar gebändigt, der Mund rot. Ganz Mund. Sie sich verwundernd über ihre Fähigkeit zu sprechen. Sich Worte zu verleihen. Ein Monolog, der den Dialog herstellt. Den mit Erfahrungen. Mit der eigenen Biografie. Immer wieder Anakoluthe. Häufige Redundanzen. Verlaufsformen, die die Zeit gerinnen lassen zum nunc stans. Schleifen, die sich wiederholen. Unsichtbare Dialogpartner. Fragen, in die sie sich gestellt fühlt. Assoziationsketten, die abgelöst werden von narrativen Passagen. Sie presst wie eine Gebärende im Reden sich selbst in die Welt. Keine Silbe wird verschluckt. Sie schleudert die Wahrheit in die Welt, klagt sich dann wieder an, reflektiert rechtsphilosophische Fragen, Stakkato und Stammeln, sich verwundern und sich widersetzen, Gott einfordernd wie ein Hiob, Hybris und Demut, nichts, was Susanne Ruppik nicht auszudrücken wüsste. Keine Geschichte, die erzählt wird. Das Erzählen in sich selbst ist die Geschichte. Eine Frau, unterwegs zur Sprache und damit zu sich selbst. Unglaubliche fünfundzwanzig Minuten lang.

Elise Kaufman erwacht. Sie erhebt sich auch im metaphorischen Sinn. Ihre singende Stimme erzählt. Wie die Ruppik erzählend singt. Die Kaufman füllt den Raum. Vierzig unglaubliche Minuten lang. Sie muss ihn nicht abtasten, ausloten, sie beherrscht ihn. Sie spielt mit ihm. Andere lesen ab. Sie trägt das Unvorträgliche vor. Beide Frauen ohne Noteinsatz der Souffleuse. Ganz Gesicht. Jede Bewegung der Brauen, jeder essigtrunken herunter gezogene Mundwinkel, jeder Blick eine Seelenoffenbarung. Sie baut ihr Klagen und ihr Verwundern, ihre Aufregung und ihren zarten Widerstand wie Stufen ins Blaue. Sie beschwört Gott herbei und zwingt ihn zur Erscheinung. Sie setzt ihre ganze Virtuosität, ihre Expressivität, ihre vollendete Technik, ihre Lust am Färben und am Schöpfen ein. Sie singt nicht über Gefühle, sie singt Gefühle. Heinz Holliger hat große Maßstäbe angelegt. Musik, die die Seele zum Sprechen bringt, so anstrengend wie Wagner a cappella. Sie setzt sich in Verbindung mit dem Original-Tonband, dessen Einsatz der Verlag verpflichtend macht. Sie reagiert nicht, sie agiert neben und mit ihm. Am Mischpult ein vorzüglich aufgelegter Rodrigo Tomillo. Sie interagiert mit dem musealen Raum, mit ihrer Sprechausgabe Susanne Ruppik. Ein atemberaubend spannender, beglückender Abend.

Jedes Glück hat bekanntlich einen kleinen Stich. Das Publikum erlesen. Aber auch handverlesen. Bei knapp sechzig Plätzen müssten die Karten für sämtliche Vorstellungen längst ausverkauft sein. Zu viele Leerstellen an diesem Abend. Der Applaus frenetisch. Kunstgenießer wissen, wohin sie unbedingt fahren sollten. Wie so oft: Avantgarde hat eine Affinität zur Provinz. Hugo Ball war Pirmasenser. 35 Kilometer entfernt von Kaiserslautern.

Frank Herkommer