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Phantasma- Musical von Frank Nimsgern am Staatstheater Saarbrücken

09.03.2010

Für opernnetz.de besucht Frank Herkommer das neueste Nimsgern- Musical und zeigt sich begeistert von Nimsgerns Erzählungen

Phantasma

Musical von Frank Nimsgern, Text von Aino Laos und Elmar Ottenthal

Besuchte Vorstellung: 7. März 2010

Premiere am 9. November 2010

Nimsgerns Erzählungen

Phantasma, altgriechisch, zu übersetzen mit Erscheinung, besonders von Gespenstern. Keine trivialen Spukgestalten, die Frank Nimsgern in seinem neuesten Musical auflaufen lässt, vielmehr Spielformen Shakespearschen Formats. Der allegorische Name für Giorgio, die Künstlernatur und Künstlerexistenz katexochen. Frank Nimsgern erweist sich als Virtuose der Philosophie- und Musikgeschichte, als versierter Kenner der Literatur-, Kunst- und Filmszene, als Zusammenführer vom Klassik und Moderne, in Musik und Bildung. Ob Mephisto oder Faust, Romeo und Julia, Hoffmanns Erzählungen mit der Suche nach der vollkommenen Frau und Geliebten, die Holländer-Erlösungs-Thematik oder Umberto Ecos Suche nach der Ursprache, die der Saarländer auf die Urmusik anwendet, er stellt die großen Fragen, nicht nebeneinander, er weist auf eine ihnen immanente Kongruenz hin. Die gute alte Metaphysik, ohne Staub, in ein mit- und hinreißendes Musical verpackt. Jenseits transatlantischer Oberflächlichkeit, durch und durch europäisch.

Nimsgern, ein T.S. Eliot redivivus. Die Sprache zeitgemäß, die Themen zeitlos. Vorsicht, hinter vermeintlichen Flapsigkeiten stehen oft Brechungen, die am Ironiebegriff eines Sokrates und eines Kierkegaard ihren Maßstab haben. Ein homme de lettre, der dem Theaterbesucher die Ernüchterung erspart, alle Zitate auf Anhieb oder überhaupt zu erkennen. Kongenial in Texte umgesetzt von Aino Laos und Elmar Ottenthal. Nichts wirkt aufgesetzt, kein Kokettieren mit der eigenen Klugheit und Belesenheit; Nimsgern zerspellt die Wirklichkeit nicht in eine positivistische Ansammlung von Einzelheiten, er verdichtet sie. Der Kreative unter den deutschen Musicalerschaffenden fragt nach den Tendenzen der (Kultur-)Geschichte, ihren Brüchen und Entfremdungen, angehaftet an die Metapher „Herz“ wie „Identität“ und „schöpferische Potenz“. Umgesetzt mit der genialen Idee einer Zeitmaschine. Sie führt aus einem Fernsehstudio bei Moderatorin Brenda de Ville, Hermeneutin und Psychagogin, und der Intensivstation einer Klinik 2010 in das Paris 1910. Im Moulin Rouge die doppelte Josephine Baker als Treppensäulenheilige, die Grisetten des großartigen Musicalballetts wirbeln über die Bühne.Ein Impresario, Professor Marvel, der zu einer teuflischen Allianz verführt. Eine überdimensionale Olympia, die hier den Namen Marionetta trägt. Scheitern wie schon bei Offenbach inbegriffen. Nimsgerns Erzählungen.

 

Professionalität in allen Bereichen, ohne den Charakter einer sterilen Künstlichkeit. Viel zu schade, um auf die Bühne des Staatstheaters beschränkt zu bleiben. Bei „Phantasma“ sind keine Macher am werkeln, das Leiden am Sujet bleibt bei aller Virtuosität spürbar. Im Fokus der seelenlose Kunstbetrieb, die Verdinglichung und Entfremdung künstlerischer Existenz, Thomas Mann und sein Doktor Faustus im Tornister, wenn auf die tausend Jahre Einsamkeit verwiesen wird, die der schöpferischer Akt zur Vorbedingung macht. Die Zerrissenheit des Kunstschaffenden, der Sinnlichkeit (Ästhetik) so zugewandt zu sein wie kaum ein anderer, sie in der partnerschaftlichen Liebe selten ausleben zu können, weil die bürgerliche Ehe täglich die Existenz des Künstlers bedroht. Die durchgreifende globale Kommerzialisierung, die den Künstler zur schnelllebigen Modeerscheinung macht und manipulativ in sein Schaffen eingreift.


Weiter führt die Zeitreise. Die Dreißiger im Amerika der Prohibition, eine unheilvolle Menage à trois, die für Julia ebenso tödlich endet wie der verbotene Gesang der Antonia/Antonia, wenn sie aus dem heimischen Hippy-hare hare- flower-power New York ihren musikalischen Gruß nach London entsendet, zur World Music Award – Verleihung 1973 an ihren Mann. Professor Marvel scheitert, Musik wird weder uniform noch machbar. Moderatorin Brenda de Ville wird zur Danteschen Seelenführerin, die den Tod transzendiert durch den Opfer (sie)- und Erlösungsgedanken (er). Die Himmelfahrt mit betörend schönen Bildern.


Alle Szenen liebevoll,intellektuell wie ästhetisch höchsten Ansprüchen gerecht werdend, phantasiereich und metaphorisch ins Bild gesetzt von Angela C. Schuett (Kostüme) , Detlef Beaujean ( Bühnenbild) und Jonathan Tilley (Choreographie). Offener Szenenapplaus für ein Bühnenbild kommt nicht oft vor auf deutschen Bühnen, wenn das spinnenförmige Space Shuttle für den mephistophelischen Professor erstmals zu sehen ist.


Musikalisch bietet Frank Nimsgern alles, was sich ein Musicalbesucher erwarten darf: Balladen, die Gefühle transportieren, einfühlsam werbend bis exzessiv, lyrisch bis triumphierend. Mischformen, klassische Motive, Swing und Can Can, Professor Marvels köstliches Potpourrie der klassischen Hitparade von La donna è mobile bis zu Nessun dorma, Nimsgern immer bereit zum Sprung, zur Metabasis, Rhythmus- und Instrumentenwechsel, wenn der Can Can in knallharten Rock übergeht, die Königin der Nacht ihre Kolloratur in überraschende Arrangements einbringt, der Komponist bringt zahlreiche musikalische Zitate ein, mit Witz und Hintersinn.

In Höchstform auch die Frank Nimsgern Group, der Meister selbst an der E-Gitarre. So muss Musical gespielt werden! Der Opernchor des Staatstheaters unter Leitung von Jaume Miranda changiert mühelos und ansprechend zwischen den unterschiedlichen Musikgenres.


An die Protagonisten werden hohe sängerische und darstellerische Ansprüche gestellt. Sie kommen ihnen alle nach. Mischa Mang als Giorgio Phantasma, ohne Herz, aber die Herzen berührend mit seiner geborenen, erotischen Musicalstimme. Darius Merstein- MacLeod ein Verwandlungskünstler, mal
Sugar Daddy, dann wieder Impresario, einer, der das Hohe C traumwandlerisch sicher trifft, dem man als Ariensänger ebenso gebannt zuhört wie dem Pop-Rock- Musical-Interpreten. Michaela Kovarikova begeistert als naives Blondchen Julia und stimmmhöhensichere Marionetta, Silvie Offenbeck als opferbereite und Aneurhysma zerreißende Antonia. Herzloser Betrieb: Michael „Mickey“ Jackson, als kleiner, nur auf der Bühne glücklicher Junge hinreißend und frech auf die Bühne gewirbelt von der süßen und begabten Kirstin Backes. Aino Laos, Nimsgerns Texterin, singt und spielt die Brenda de Ville, empathisch, anrührend, stimmschön. Maik Lohse mit vielen Sprechpartien, wenn er unterschiedliche Rollen verkörpert, umso ansprechender, wenn er mit seiner weichen und einfühlsamen Stimme singen darf.

Das Publikum begeistert. Johlen, rhythmisches Klatschen, Jung und Alt im Nimsgern- Rausch. Standings, drei Zugaben, volles Haus an einem Sonntagabend. Savoir vivre spricht eben saarländisch.

Frank Herkommer

 

Musik: 5 Sterne

Gesang: 5 Sterne

Regie: 5 Sterne

Bühne: 5 Sterne

Publikum: 5 Sterne

Chat- Faktor: 5 Sterne