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26.4.2024 : 1:35 : +0200

Szenische Uraufführung unvollendeter Schubert-Oper "Sakontala" am ST Saarbrücken

07.04.2010

Berthold Schneider inzeniert, textet die Dialoge, beauftragt Karl Aage Rasmussen mit der Rekonstruktion der unvollendeten indischen Mythenoper von Franz Schubert. Musik, die begeistert. Eine Inszenierung, die eine differenzierte Betrachtung erfordert. Also eine Aufgabe für Frank Herkommer auf opernnetz.de

Sakontala


Oper von Franz Schubert
Rekonstruktion von Karl Aage Rasmussen
Dialoge neu von Berthold Schneider
Szenische Uraufführung
Szenische Skulptur in der Reihe <echtzeit>
Premiere am 27. März 2010
Staatstheater Saarbrücken

 

Überschneidungen

Berthold Schneider, Operndirektor am Saarländischen Staatstheater, ist zu danken. Mit Schuberts unvollendeter Oper Sakontala rettet er große Musik vor dem Vergessen. Anmut und Heiterkeit, arabeske Verspieltheit, ein Träumen nach Vorne, Charakteristika dieser Opernmusik, die es jedem Musikfreund zur Pflicht machen sollten, in den charmanten Westen der Republik zu kommen. Man wünscht sich, Schubert habe einmal weniger abgebrochen und zudem weitere Opernmusik komponiert. Einmal mehr erweist sich wie Reihe <echtzeit> als der Geheimtipp für Freunde außergewöhnlicher Produktionen. Schneiders neu verfasste Dialoge haben Witz, der indische Plot wird entmythologisiert, die Traditionen der subkontinentalen Epik im Allgemeinen, der Theaterkunst im Besonderen subtil eingeflochten. Seine Aktualisierung des Mythos mit gesellschaftskritischem Schärfenblick. Die Antagonismen werden keineswegs bollywoodisiert, von Brecht die Brechungen, Indien in seiner ganzen Ungleichzeitigkeit zwischen Laptop und Armen, die die Haare lassen müssen. GetFriday Boys, Dienstleister für global player, die die Überschneidungen innerhalb der Weberschen Unterscheidung von Amt und Person, von Geschäftsmann und Privatperson im globalisierten Postkapitalismus sichtbar werden lassen. Postkoloniale Ansprüche auf Lizenzrechte und Patente, die Verweigerung und Emanzipation Blech geworden im Tata Nano, der in Echtzeit auf die Bühne gebracht und als wahrer Volkswagen präsentiert wird. Tertium comparationis der Ring der Treue, der im Mythos verloren ging. Karl Aage Rasmussen macht sich verdient um die fein ziselierte Rekonstruktion der Musik, gelungene, in sich schlüssige Umstellungen, ohne epigonale Ergänzungen. Ein Finale, welches das nie geschriebene vorweg nimmt und vielleicht damit Schuberts Demotivation bewirkte. Schubert ganz Schubert sein lassen, darin liegt der gelungene Wurf Rasmussens.

Bühne und Zuschauerraum, nein, das ganze Theater werden zu einem korrelierenden Ensemble verbunden. Türen, die eine halbe Stunde auf bleiben, als führe Kafka auf der Galerie Regie, mit dem ungewollten Nebeneffekt Zug, der zusetzt. Die Emporenverschalung zu einem riesigen Oval verlängert, Kampfarena Welt, was in der Schlussszene mit der offenen Bühne zum ungewollten Brett vor dem Kopf führt. Die ersten Reihen werden der Bühne zugeschlagen, gute zwei Meter der dritten Reihe links bleiben ohne Überbau, für die aus dem Überbau. Wenn kurzfristig mal die Seiten gewechselt werden. Schlechte Aussichten für die Nurzuschauer im Rang, denen jeweils auf eine Seite der Einblick verwehrt bleibt. So verpufft ein Teil der Performance von Skull,Kunstfigur, rot bemalt, in Indien Ausdruck der Seele, das Substrat der Kunst. Schneiders Botschaft von der Latenzeit, die jeder Kunst vorausgeht, bleibt links oben unverstanden, wie uns oben rechts alles, was direkt unter uns geschieht. Ungesehene Überschneidungen, die gerade das Spannende in der Konzeption des Regisseurs darstellen. Auch so kann man die Partikularität aller Erkenntnis als Einsicht erzwingen. Eine Inszenierung, die sich keinen Gefallen erwiesen hat, die Übertitelung ausgerechnet dort ausfallen zu lassen, wo sie den Mythos dargestellt hätte- bei den Gesangsstücken. Um Schneiders intelligente und tiefschürfende Adaption zu würdigen, müsste man erst einmal das Libretto kennen. Eine diffuse, komplexe, unvollendete Geschichte hätte es verdient gehabt, wenigstens zur Kenntnis zu gelangen. So bleibt ein wenig Nina-Hagen- Gefühl: Alles so schön bunt hier...

Wir die Kostüme überhaupt. Doey Lüthi gelingt es, prächtige Ausstattungen zu entwerfen, ohne genretypisch folkloristischen Kitsch zu bedienen. Ihre Farbsymbolik trägt, die moderne Welt der Künstlichkeiten wird an den Chormitgliedern im Gelbmann und unter dem Arbeitshelm sichtbar. Das Bühnenbild,verantwortlich Veronika Witte, nennt sich bezeichnenderweise „Raum“ , mit vielen Ebenen, Räumen, die abgetrennt erscheinen, dann wieder ins Ensemble tauchen, als Projektionsfläche dienen, mit Verdoppelungen, Transparenz gewährend und Intimität, mit den genannten technischen Schwierigkeiten. Medien, die einzubeziehen sich als sinnvoll erweist, ein Monitor, dessen Botschaft den Ablenkungsfaktor nicht kompensieren kann. Insgesamt eine Fülle kreativer und intellektuell herausfordernder Ideen.

Das Orchester des Staatstheater Saarbrücken unter Leitung von Christophe Hellmann bringt die bukolische Leichtigkeit, die heitere Verspieltheit und die Komplexität Schubertscher Kompositorik auf verzückende Weise zu Gehör. Der Opernchor meisterhaft einstudiert von Jaume Miranda.

Gesanglich stimmt es. Einen der ProtagonistInnen hervorzuheben, wäre ungerecht. Ob der kultivierte Tenor des Algirdas Drevinskas in der Rolle des Duschmanta, ob Guido Baehr, der Durwasas Stimme und Statur verleiht,
Elizabeth Willes, die Sakontala mit ihrer seelenvollen Stimme beeindruckend verkörpert, Hiroshi Matsui, charaktervoller, stimmmächtiger Interpret des Kanna, Sofia Fomina (Amusina) trotz Akzent in den zahlreichen Sprechpassagen zauberhafte Partnerin von der ebenso ansprechenden Judith Braun (Priamwada), ob Elena Kuchukowa als Menaka oder Stefan Röttig, Timo Päch, Harald Häusle in Nebenrollen, das Publikum zeigte sich zurecht äußerst angetan von den Gesangsleistungen. Zwei echte Inder (ein Junge und ein Erwachsener) auch auf der Bühne: Rajnikant Dindoyal als Raj und Vaishnavan Sivaeunarajah in der Rolle des Bharata.

Das Publikum gespalten. Die übergroße Mehrheit angeregt, von der zauberhaften Musik vereinnahmt, sich gedanklich gefordert sehend. Viele Diskussionen auf den Fluren. Eine qualifizierte Minderheit verständnislos. Anstand, der sich in langem Beifall, dem Verzicht auf Missmutsäußerungen zeigte. Noblesse oblige, das walte das nahe Lothringen.

Frank Herkommer

Musik: 5 Sterne

Gesang: 4 Sterne

Regie: 4 Sterne

Bühne: 4 Sterne

Kostüme: 4 Sterne

Publikum: 4 Sterne

Chat- Faktor: 5 Sterne