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19.4.2024 : 20:14 : +0200

Lohengrin - Festspielhaus Bayreuth

16.08.2012

Eine hochkomplexe, hochintelligente und höchst amüsante Neuenfels-Inszenierung beobachtete Frank Herkommer auf dem Grünen Hügel für Opernnetz

Die Missgeburt des Neuen Menschen

Die selbst ernannten Gralshüter der Bayreuther Festspiele, die dem Irrglauben anhängen, Werktreue zeige sich im Verzicht auf interpretierende Metaebenen, das Althergebrachte sei für diesen Ort das allein Angemessene, das Fabelhafte vertrage keine Fortschreibung, Bühnenbilder und Kostüme haben der Würde des Hauses und der Tradition Rechnung zu tragen, Tendenzen seien nicht aufzuspüren und aufzunehmen, denn der Mythos lege sich selbst und evident aus, und Humor vertrage sich nicht mit Wagner, finden in Hans Neuenfels und seiner vorzüglichen Lohengrin-Inszenierung ihren Meister. Zwanzig Minuten stehende Ovationen, die zwei, drei Buhmänner niederjubeln, zeigen: Die Inszenierung kommt an. Zu Recht! Es gibt keine Lex Bayreuth, es gibt nur gute oder weniger gute Regieleistungen. Diese Inszenierung ist hochkomplex, stringent, philosophisch schlüssig, humorvoll und bunt, zu Ende gedacht, weil sie alle geschlossenen Antworten verweigert, Überhöhungen eskamotiert. Popper statt Hegel. Neuenfels nimmt die doppelte, individuelle wie kollektive Erlösungsthematik im Lohengrin auf, ein Schwanengesang auf alle Absolutheits- und Erlösungsansprüche. Er erzählt in Fabelform von der lernbegierigen, manipulationsgefährdeten, vorteilsbedachten Ratte in uns allen. Die sich gerne verführen lässt und Heilsbringern folgt. Er entzaubert die Utopien vom Neuen Menschen, ob monastisch, ob klassenlos oder als Übermensch, an deren Enden der Homunkulus steht, das wiedergefundene Kind im Mythos vom adoleszenten Schwan, hier eine sich selbst gebärende Karikatur zwischen Mutant und Mysterienkult. Monströs androgyn, das Ergebnis, wenn auf der Suche nach dem wahren Menschen experimentell die sexuelle Identität zur Disposition gestellt wird. Weil der Mythos sich per definitionem zeit- und raumübergreifend erzählt, kann das Geschehen vom Höfischen in den Hof eines Labors verlegt werden, ohne der Erzählung Wagners Gewalt anzutun. Die archetypischen Symbole bleiben: Ob Krone für die Macht, Schwert für den Krieger oder Kreuz für die Vereinigung des Profanen mit dem Sakralen. Vier Wahrheiten, jeweils in einem Animationsfilm präsentiert, zu denen die verdeckten Allmachtsfantasien ebenso gehören wie die Erkenntnis, dass der Große und Starke, der Böse seine Kraft von den kleinen Anhängern bezieht, die zugleich seine größte Bedrohung in der Apostasie bedeuten. Der Bullterrier, der sich zu Tode hetzt. Von dem ohne Ratten nur ein Skelett bleibt. Eine Personenführung, die atemberaubende Psychogramme der vier Hauptprotagonisten erstellt, in der jede Geste, jede Körperlage geplant ist, die auf die Spannungen hinarbeitet, die auch innerhalb der beiden gegensätzlichen Paare bestehen.

Das Bühnenbild und die Kostüme von Reinhard von der Tannen brillant. Irre witzig, wenn die Ratten ihre kleidersackähnlichen, durchnummerierten, geschlechtsspezifischen Überzüge ablegen und an herabschwebenden Fleischerhaken aufhängen. Darunter viel Farbpsychologie. Gelb wie intelligent, bunte Peddicoats bei der Hochzeit, dabei immer sichtbar der Schwanz und die Rattenfüße. Viel Türsymbolik, verschiebbare Kleinkäfige, ein gläserner Raum, in dem der Schwan sich in einen Phallus verwandelt, auf dem Ortrud reitet. Kostüme, die in engster Korrelation mit der jeweiligen Befindlichkeit stehen, schwarzer und weißer Schwan, schwarze Witwe, wenn Lohengrin seinen Abschied erst ankündigt. In hermetisch dichter Ganzkörperverhüllung die anonymen Helfer des Systems.

Das Festspielorchester unter Leitung von Andris Nelsons wird bejubelt. Welche Zartheit, Leichtigkeit. Das Schwebende und dann wieder das Finale der Komposition kommt zu Gehör, jedes Pathos wird vermieden. Es ist wahr, nirgends klingt Wagner so authentisch wie in diesem Haus.

Die sängerischen Leistungen und die Darstellung im Spitzenbereich. Ob es weltweit einen besseren Lohengrin gibt als den strahlenden Klaus Florian Vogt? Dessen Tenor sich über den mächtigen Chor legt, jedes Wort verständlich, reif in der Technik, jugendlich schön in Figur und von Angesicht, eine erotische Stimme, die die Götter ihm in einer Feierlaune geschenkt haben müssen, stets höchst präsent und glaubhaft. An seiner Seite ebenbürtig die zauberhafte Elsa Anette Dasch. Deren Sopran alles Apodiktische abgeht: fein, werbend, schmeichelnd, die zu leiden versteht, die verstörbar ist und friedfertig. Bei der das Wort Verrat den Mitleidenden im Publikum genauso verletzt wie sie. Das Gegensatzpaar auf Augenhöhe. Keine Antithese. Nicht schwarz und weiß. Eine dämonische, groß auftrumpfende Susan Maclean. Von ungeheurer Präsenz, die sämtliche Gefühle lebt, die bei aller Vitalität und Willensstärke eine Verwundbarkeit sichtbar werden lässt, deren Stimme von magischer Suggestivkraft ist, die den zweiten Blick ermöglicht in das Abgründige wie in die Verlorenheit. Eine Ortrud, wie sie für Bayreuth nicht angemessener sein könnte. Thomas J. Mayer fügt sich nahtlos in das hohe Niveau ein. Seine Interpretation des Friedrich von Telramund in der selben Vielschichtigkeit, neben eigenem Machtstreben die Dienstfertigkeit gegenüber den wahren oder vermeintlichen Ansprüchen seiner Frau. Die Stimme gewaltig und kultiviert zugleich, der ideale Antipode zu Lohengrin. Die Entdeckung des Abends für viele ist Samuel Youn in der Rolle des königlichen Heerrufers. Eine Stimme mit großem Zukunftsversprechen, einer jetzt schon unverwechselbaren Färbung, die in die tiefen Schichten der Seele einzudringen vermag. Größtes Potenzial hat auch der junge Bass Wilhelm Schwinghammer, hier in der Rolle des König Heinrich. In dieser Vorstellung vielleicht ein klein wenig zu zurückhaltend, sonst hätten alle hören können, welche große Karriere sich hier abzeichnet. Der Festspielchor unter der Leitung von Eberhard Friedlich in glänzender Spiellaune, stimmlich überragend. Seiner Suggestivkraft kann sich niemand entziehen. Einfach nur gewaltig.

Das Publikum begeistert und begeisterungsfähig. In den beiden Stundenpausen zeigt man sich entzückt über die Ratteninszenierung. Man kleidet sich schick, aber ohne Protz. So viele schöne und kluge Menschen sieht man selten in dieser Dichte. Wer Bayreuth für eine antagonistische Veranstaltung für neureiche Banausen hält: Dieser Abend liefert den Gegenbeweis.

Frank Herkommer