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Der ultimative Theaterknigge

03.03.2008

10 Ratschläge für korrektes Verhalten im Theater erteilt Ihnen der Musikkritiker Frank Herkommer

Mein Theater -Knigge


„Ach, ich würde ja auch gern mal in die Oper gehen, aber ich getrau´ mich nicht. Ich weiß ja gar nicht, wie man sich da richtig verhält.“ Wie oft höre ich solche und ähnliche Stoßseufzer und Selbstzweifel. Doch die Hilfe naht. Hier der ultimative Verhaltenskodex für Theaterbesucher und solche, die es endlich werden wollen.


Erste Regel:


Lassen Sie sich von ein bisschen Reizhusten nicht vom geplanten Musiktheater- Besuch abhalten!

 

Überhaupt geben Erkältungskrankheiten jeder Aufführung ihre besondere Färbung. Bei Schnupfen wäre die Aida sehr als Einstiegsoper zu empfehlen, Sie könnten versuchen, synchron mit den Posaunen Ihren Zinken ertönen zu lassen- durch heftiges und ausgiebiges Schnäuzen. Die Trompeten von Jericho sollten im Vergleich dazu wie ein sanftes Säuseln erscheinen. Für Husten empfehlen sich die einschlägigen Schwindsucht- Opern, La Traviata und La Bohème seien wärmstens an Ihr Herz gelegt. Sollten Sie zu der Minderheit gehören, die knackig gesund ins Theater geht, schämen Sie sich dessen nicht. Wenn Violetta mit voller Lunge und anfallsfrei ihr Leben aushaucht, untermalen Sie diese unglaubwürdige Szene mit künstlich hervor gerufenen, flachen, harten Hustern. Sie schaffen das! Und Sie sind das der Authentizität schuldig. Die meisten Regisseure haben nämlich offensichtlich vergessen, was TBC heißt: Husten, Husten und nochmals Husten!


Na, immer noch so viel Respekt vor dem ersten Opernbesuch? Ist doch alles gar nicht so schwer, wie Sie vielleicht befürchtet haben. Kommen wir darum nun zur

Zweiten Regel:


Theater ist kein Maskenball


Was soll ich anziehen? Die bange Frage vieler Debütanten. Zeigen Sie ein wenig soziale Empathie! Theaterkünstler verdienen bis auf den heutigen Tag einen jämmerlichen Hungerlohn. Ohne Erbonkel bleibt nichts übrig für Markenklamotten. Eher second-hand- Laden. Heimliches Wühlen, wenn der Bethelsack zur Abholung vor fremden Türen steht. Beschämen Sie also die Tänzerinnen und Sänger, die Schauspielerinnen und die Beleuchter nicht mit zur Schau gestelltem bürgerlichem Wohlstand. Holen Sie den letzten, verfilzten Pullover wieder aus dem Beutel von der Altkleidersammlung. Der Hosenboden sollte ruhig speckig sein, das riecht förmlich nach Künstlerleben. Sie, verehrte Dame, haben nichts Entsprechendes? Ja, was tragen Sie denn, wenn Sie putzen? Keine Angst, Sie werden nicht auffallen, es werden immer mehr, die selbstlos auf das Vergnügen verzichten, sich schick anzuziehen. Schöne Klamotten gehören auf die Bühne, nicht ins Parkett!


Das wäre auch geklärt. Kommen wir zur

Dritten Regel:


Unterschätze nie die Länge eines Aktes


Nicht nur Diabetiker sollten für alle Eventualitäten gewappnet sein. Denken Sie an den kleinen Hunger zwischendurch! Bonbons in der guten alten Papierumhüllung gehören zu den Rennern. Aber bitte nicht einzeln bei sich tragen! Sie setzen sich unnötig unter Stress, wenn Sie nach dem elften, zwölften Bonbon verzweifelt in Ihren Taschen wühlen, ob da noch ein Leckerli sei. Knister-Tüte ist angesagt. In der Handtasche mit lautem Schnappverschluss. Sie fühlen sich gleich wie in vertrauter Umgebung, auf dem Fußballplatz oder im Kino. Wenn der köstliche Geruch aufsteigt, kann es sein, dass Sie ein Brummeln, Räuspern oder sogar böse Blicke ernten, vor allem beim genüsslich zelebrierten Ritual des Auspackens und Zusammenfaltens des Bonbonpapiers. Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß, was Sie mit dem Fuß auch öfters gegen die Rückenlehne des vor Ihnen Sitzenden tun sollten, damit der nicht peinlicher Weise einnickt, und fragen Sie nach, ob jemand in der näheren Umgebung ein Gutzi mag. Denken Sie daran, dass auch hinter und vor ihnen Menschen sitzen, denen vermutlich gerade das Wasser im Mund zusammen läuft. Eine kleine Geste, mit so großer Wirkung.


Damit sind wir schon bei der vierten Regel:


Lesen Sie mit!


Anfänger sehen sich oft vor das Problem gestellt, dass Sie das Geschehen (Fachleute sprechen vom Plot) der Operette, des Musicals, der Oper nicht kennen. Dafür gibt es am Abend der Vorstellung die berühmten Programmhefte. In ihnen werden die Personen aufgelistet, die Handlung wird Akt für Akt kurz und prägnant zusammen gefasst. Es ist sinnlos, den Text unmittelbar vor der Vorstellung zu lesen. Sie können sich ja doch nicht zehn, zwölf und mehr Personen mit meist ausländischen Namen so schnell merken. Und selbst wenn, wer sagt Ihnen nachher, wer wer auf der Bühne ist? Ziehen Sie während der Aufführung immer wieder das Programm heran, ob Sie erkannt haben, wer das wohl sein soll, der eben die Sopranistin mit kühlem Baß abblitzen lässt, welcher Tenor teuflische Intrigen spinnt und warum. Blättern Sie hin und her! Nehmen Sie sich am besten eine kleine Taschenlampe mit, manche Szenen sind so düster ins Bild gesetzt, dass Sie rein gar nichts lesen können. Und sichern Sie sich ab: Fragen Sie Ihre Nachbarn zur Rechten und zur Linken, vor Ihnen und hinter Ihnen, was der Schwan auf der Bühne soll und wer ihn spielt, ob das da nun der Vater oder der Sohn ist, mein Gott, bei so viel Maske und Schminke, wer kann sich da noch sicher sein?! So tragen Sie bei zu einer wunderbaren Interaktion , dem kommunikationstheoretischen Ansatz vieler Regisseure kommen Sie damit sehr entgegen. Eigentlich könnte das Stück jetzt aufhören, alles ist erreicht.


Fünfte Regel:


Tarnen Sie sich, wenn Sie zu einer Minderheit gehören!


Sehr schnell werden Ihnen im Theater die Augen geöffnet, wer Minderheit und wer Mehrheit ist. Die Welt ist voller Schwuler, selbst dort wo Sie es nie vermutet hätten. Nein, nicht die üblichen Verdächtigen, der Maskenbildner mit Friseurausbildung, nicht der Balletttänzer mit dem angeberischen Riesen-Suspensorium, unzählige Regisseure und Dramaturgen haben endlich die Wahrheit ans Licht gebracht: Faust studiert in Wahrheit den Wagner, bloß der blöde Pudel kapiert das nicht und will ungelegen ins Gelehrtenzimmer, Marthe tröstet sich mit Gretchen, Romeo liebt eine minderjährige Transe, Jago ist unsterblich in Othello verknallt und darum eifersüchtig auf Desdemona, Gretel ist in Wirklichkeit ein Hänsel. Und der Stil, den die vermeintliche Hexe, die sich als Hexer entpuppt, mit beiden Händen umfasst und reitet, ist ihr eigener. Mit Humperdincks Segen.

Deshalb ist dringend anzuraten, wenn Sie nicht unangenehm auffallen wollen, nehmen Sie einen Schwulen aus Ihrem Bekanntenkreis mit zur Vorstellung. Damit umgibt Sie ein Hauch von Normalität. Sollten Sie keinen haben, üben Sie selbst. Als Vorlage könnte Ihnen „Ein Käfig voller Narren“ dienen. Es muss ja nicht gleich wie Zaza aussehen. Den kleinen Finger abspreizen, das obligate Hallöchen und Prösterchen, die Vorstellung ist ja so goldig, der Dirigent so süß, das müsste für den Anfang genügen. Als Frau hingegen sollten Sie möglichst burschikos auftreten. Spucken Sie auf den Boden, drohen Sie den Garderobendamen Prügel an, wenn Sie jetzt nicht sofort drankommen und treten Sie Ihre Zigarre erst im letzten Augenblick an der Tür aus, bevor das Ordnungsamt gerufen wird.


Wenn Sie jetzt immer noch ins Theater wollen beherzigen Sie bitte


Regel Nummer Sechs:


Es ist nie zu früh!


Am besten, Sie nehmen Ihre Kinder von Anfang an mit ins Theater. In Anbetracht dessen, wie lange sich eine Vorstellung hinziehen kann, sollten Sie etwas zum Spielen mitbringen. Für Kleinkinder und Säuglinge sind für den Einstieg Konzerte besonders anzuraten. Sollte das Kind beleidigt weinen, weil Sie sich weigern, mit ihm Papier-Schere- Brunnen-Stein zu spielen oder der Säugling durch den grässlichen Lärm aufgeschreckt schreien, wird dadurch niemand die Möglichkeit genommen, einen anspruchsvollen Text zu verstehen. Das ist sehr rücksichtsvoll. Vermeiden Sie, mit Ihren Kleinen ins Kindertheater zu gehen- es wird Ihnen ja doch niemand in Ihrem Freundeskreis abnehmen, dass nicht Sie in Wirklichkeit unbedingt dieses Stück sehen wollten. Besprechen Sie Schauspiel, Oper und Musical und alles andere immer gleich während der Vorstellung mit Ihrem Kind! Nur so gewährleisten Sie, dass der unmittelbare Eindruck sich verfestigt und beugen möglichen Missverständnissen und Fehlinterpretationen vor.

Leider befinden sich immer wieder miesepetrige, übelgelaunte, dann meist ältere Zeitgenossen im Theater, die sich möglicher Weise beschweren. Hier der Tipp, wie Sie diese monströsen Menschen zum Verstummen bringen: Fragen Sie erstens: Hatten Sie keine Kinder? Sollte damit der gewünschte Zweck, die schamvolle Erkenntnis der Kinderfeindlichkeit, nicht erzielt worden sein, oder sogar die freche Antwort kommen: Es geht um das Benehmen Ihrer Kinder, nicht um das meiner, dann verwenden Sie zweitens das Totschlagargument, das immer zieht: Sie waren wohl nie Kind. Davon erholt sich so schnell niemand.


Kommen wir noch kurz zu Regel Sieben:


Zeigen Sie den Akteuren, wie sehr Sie ihre Aufführung genießen!


Die Möglichkeiten auf diesem Feld sind nahezu unbegrenzt. Wiederholen Sie laut einen Satz, der Ihnen besonders gefallen hat und belegen Sie damit Ihre Aufmerksamkeit. „Trinke, Liebchen, trinke schnelle! Ha, ha, hast du gehört, Erna? Trinke schnelle! Sach ich doch auch immer!“ Klopfen Sie sich dabei ruhig auf die Schenkel. Sitzen Sie weit vorne, fühlt sich der Sänger bestätigt. Geben Sie Kommentare ab: „Siehst du, Desdemona, du blonde Schlampe, das kommt davon, wenn man einen schwarzen Ausländer heiratet!“ Sollten Sie öfters das selbe Stück sehen, nehmen Sie bitte dem Bühnengeschehen unerträgliche Spannung, damit alle sich ganz auf den wundervollen Text mit seinen sprachliche Schönheiten und die grandiose Sangesleistung konzentrieren können: „Gleich bringt er sie um!“ Weihen Sie Ihre Nachbarn ein, wie das Stück ausgeht. Zeigen Sie, dass Sie der reinen Konsumhaltung entwachsen sind. Lassen Sie sich zum Beispiel während der „Menschlichen Stimme“ auf Ihrem Handy anrufen. Ihr Mitpublikum wird es mit minutenlangem Gelächter quittieren. Signalisieren Sie dem Ensemble, dass Sie eine bestimmte, wunderbare Inszenierung bereits mehrmals gesehen haben, indem Sie mit summen, mit singen, kräftig schunkeln. Wenn es im Publikum wabert und wogt, wird der Funke unter Garantie auf die Bühne überspringen. Beugen Sie sich öfters mal für ein paar Minütchen nach vorne und lösen Sie so hinter sich die so genannte Theater-La-Ola aus. Das macht Stimmung! Man geht ja schließlich ins Theater, um sich zu amüsieren!


Regel acht:


Trink dich einen!


Diese Regel könnte allerdings fatale finanzielle Folgen haben. Natürlich, eigentlich ist Kultur nur im leicht angetrunkenen Zustand zu ertragen. Einen Fernseher kann man abschalten. Das Kino ebenso vorzeitig verlassen wie als stiller Protest ein Fußballstadion. Ein langweiliges Buch kannst du weglegen. Nur Theater ist anders. Wie Kirche. Da bleibt man bis zum bitter ersehnten Ende. Aber Vorsicht: Die Preise im Foyer sind nicht von Aldi. Stammkneipe ist woanders. Daher empfiehlt es sich, den kleinen Flachmann mit zu bringen. Auch im Flakon getarnt, im großen Vorraum der Toilette ab damit in die Gurgel, tut der Alkohol seinen hervorragenden Dienst. Wenn Sie genug intus haben, reicht Ihr Mut vielleicht, um bei anschließenden Premierenfeiern sich auf jeden, Ihnen persönlich natürlich gänzlich unbekannten Star zu stürzen und ihn unter überschwänglichem Lob abzubusseln.


Regel Neun:

Hab eine Meinung!


Nur nicht in den Pausen alles schön finden, Das zeugt von Unverstand und mangelndem Geschmack. Denn das Vollkommene ist eine äußerst seltene Blüte. Es gibt immer was zu nörgeln. Ziehen Sie über das scheußliche Bühnenbild her (auch wenn es Ihnen großartig gefallen hat)! Sie werden garantiert Menschen finden, die Ihre Empörung teilen. Zu modern! Zu bieder! Zu abstrakt! Zu eindimensional (das Wort kommt prinzipiell gut!). Die Kostüme sind entweder zu bunt ( Wir sind doch nicht im Karneval! Wir leben nicht mehr im achtzehnten Jahrhundert)! oder zu grau ( Wie lieblos, da kann ich auch durch die Stadt gehen! Das Stück spielt doch vor zweihundert Jahren und nicht heute, so ein Nonsens!). Beurteilen Sie die Stimmen! Wie, Sie können das nicht? Ach was, sagen Sie einfach: Der Tenor war auch schon besser. Wer wagte zu widersprechen? Na, die Sopranistin, einige Töne kamen nicht ganz sauber. Ehrfürchtiges Verstummen und Staunen wird Sie begrüßen im Kreis der Opernkenner. Und das Schauspiel war schwach inszeniert a) weil es sich an die literarische Vorlage hielt, b) weil es sich nicht an die Vorlage hielt. Faustregel: Theater ist wie Fußball, nur Experten, keine Laien. Dein Daumen zählt! Senke ihn nach unten! Die Richtung stimmt immer!


Zehnte Regel:


Bloß nicht viel Applaus!


Wenn das Stück endlich am Ende ist, genau wie Sie, ist noch lange nicht Schluss. Da im Publikum vermutlich mindestens achtzig Prozent Verwandte und Freunde der im Theater Beschäftigten und am Stück Beteiligten sitzen, überschütten sie die Künstler mit vielminutenlangem Applaus und unendlichen Bravorufen. Aber ohne Sie! Drücken Sie sich schnell durch Ihre Reihe, notfalls setzen Sie Ihre Ellenbogen ein, und machen Sie, dass Sie an die Garderobe kommen! Was glauben Sie, was da und in der Tiefgarage los ist, wenn Sie nicht zu den ersten gehören, die das Theater verlassen?! Beifall? Als ob ein wahrer Künstler nicht selbst wüsste, wenn er gut war.


Und jetzt auf ins Theater! Du bist Theater! Wir sehn uns! Ich bin der mit den zwei Biergläsern auf einmal.