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23.4.2024 : 12:30 : +0200

Entführung aus dem Serail- Heidelberger Premiere findet im Theater Heilbronn statt

10.10.2012

Nadja Loschki inszeniert Mozarts Entführung aus dem Serail. Ein großer Wurf, wie Korrespondent Frank Herkommer für Opernnetz rezensiert

Wenn der Liebe Nöte gefangen nehmen

Alles passt. Nadja Loschki zaubert mit dem Theater Heidelberg eine Entführung auf die Heilbronner Bühne, die Mozart ernst nimmt und die die Liebe ernst nimmt. Keine Divergenz zwischen Libretto und Bühnengeschehen, keine zwei Geschichten, die erzählt werden. Dafür eine auf großartige Weise. Die Überführung in die Jederzeitigkeit gelingt ebenso wie die Herausstellung der großen Fragen um das ewige Thema Liebe. Eine sanfte Wehmut grundsätzlicher Natur ist spürbar, aber auch Mozarts Humor, der aufgenommen und auf höchst unterhaltsame, geistreiche Weise fortgeschrieben wird. Kein Ibsen, kein Bergmann in der Form, im Tiefgang schon. Die entscheidenden Themen werden angesprochen, durch sensible Personenführung, intelligente, selbst verfertigte Sprechtexte, durch Ortsbestimmungen. Schauplatz Fabrik, vielleicht eine industrielle Großgärtnerei. Unwichtig, weil der Serail ein Ort ist, an dem niemand sein will. Mit verborgenen Räumen, Bassa Selims Mausoleum. Ein Innenraum im Wortsinn, der mal latent, mal offensichtlich ist. Mit einem Bett wie der berühmte Sarkophag in Lucca, auf dem niemand liegen könnte, darauf das Kleid der Verstorbenen, auf der Konsole die Urne, überall die Rosen als Insignien unsterblicher Liebe. Eine Tote, die immer präsent ist. In die Konstanze hineinwachsen soll. Eine Halle mit einer Tür, von der auch nach der Krise niemand weiß, was die Protagonisten hinterher erwartet. Mit einer Fallwand, die von der Unentrinnbarkeit erzählt, wenn Fragen nicht danach fragen, ob man sie gestellt bekommen möchte. Weil Gefühle das Unverwaltbare sind. Von Bedrängnis erzählt die Regisseurin, von atemnehmender Intimität und Übertragungen, von Verlustängsten, Ängsten vor den eigenen Gefühlen. Von Erlösungsphantasien, die nicht nur den Erlösungsuchenden, sondern auch die um Erlösung Angefragten umtreiben. Zwei Küsse, Blonde für Osmin, Konstanze für Bassa Selim, die anzeigen, dass die Grenzen verschwimmen, Liebe über keine erratische Struktur verfügt. Nicht einmal auf die eigene kann man sich verlassen. Eine Grube zum Bewässern der Pflanzen, die dem Trauernden ein Grab wird, zwei Planken genügen. Für Blonde wird die selbe Grube zur Insel ihrer Verführungskünste, Osmin wird niedergeschlagen, als Pedrillo spürt, dass etwas mitschwingt, das seine Beziehung bedroht. Weil Spiel und Ernst zu gerne in ein osmotische Verhältnis zueinander treten. Für Konstanze gerät ein Brett zum Schwebebalken über Abgründen. Szenen, in denen sexuelle Gewalt spürbar wird wie selten, die Zwangswaschung der Konstanze, dann die drohende Hinrichtung, in der es in Wahrheit um das Ende einer Liebe geht. Für alle Beteiligten. Ein Aufgeklärter, das ist in dieser Inszenierung der Matroschka-Orientale schon, in dem ein Europäer steckt. Darüber, dass erzwungene Liebe keine ist. Und vom Ende konkret wie metaphorisch bedroht, die Liebe sich selbst erlöst. Zumindest für den Augenblick. Der Entführer kennt den Weg, wie er sich selbst erlösen muss. Wie, soll hier nicht verraten werden.

Für das konkludente Bühnenbild zeichnet Nina von Essen verantwortlich. Die Räume erzählen die Geschichte mit, ohne sie zu überlagern. Jedes Detail macht Sinn. Die Kostüme von Gabriele Jaenecke eine Augenweide. Das transparente Kleid, das Selim der Konstanze anlegt, eine Mischung aus Totenhemd und erotischer Umhüllung. Osmin auch äußerlich der Proll und Bodyguard. Einfach ein starkes Frauenregieteam.

Den größten Applaus an diesem Abend erhält Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla. Wie sie das Heidelberger Orchester leitet, Mozartsche Spielfreude verbreitet, die subtile Tonsprache intoniert! Großes Dirigat, große Leistung des Orchesters.

Als Konstanze eine Irina Simmes, die alle Facetten der Figur ergreifend, berührend, bezwingend in Gestik, Körpersprache und Gesang zum Ausdruck bringt. Jung, erotisch und schön, was der Glaubwürdigkeit zu gute kommt. Unglaublich, wie sie in körperlicher Bedrängnis die Konzentration behält und mit einer Stimme singt, die über Dynamik, eine reiche Färbung, Ausdruckskraft und die Fähigkeit verfügt, seelische Prozesse nachfühlbar zu machen. Eine herrlich verspielte Blonde gibt Sharleen Joynt. Witzig und hintertrieben, mit einer Stimme, die vielversprechend ist. Klangschön, erotisch, mit viel Potenzial, wenn sie in den hohen Tönen noch mehr die Stimme freigibt. Ein begeisternder und vom Publikum wie kein anderer gefeierter Wilfried Staber in der Rolle des prolligen Osmin, eine Mischung aus Bodyguard, Türsteher, Zuhälter, Securityman. Mühelos bringt er Mozarts Leichtigkeit zum Ausdruck, dann wieder männliche Unterentwicklungen, stimmlich wie spielerisch ein Vergnügen. Belmonte spielt in der Premiere Terry Wey. Ein strahlender Tenor, mühelos auch in den Höhen, spielerisch kann er es mit jedem vom Schauspielfach aufnehmen. Worin sich das ganze Team auszeichnet. Den spießigen, aber mit einem Schuss pragmatischer Überlebenskunst und Verschmitzheit ausgestatteten Pedrillo verkörpert Winfried Mikus, der mit seinem Abdomen der Erotik des Machokonkurrenten nichts entsprechendes entgegen zu setzen hat. Eine höchst gebildete, immer präsente und schöne Stimme. Schauspieler Michael Pietsch beeindruckt in der Rolle des Bassa Selim. Ein Mann mit Widersprüchen und starken Gefühlen, der anzieht und abstößt. Der die Sprünge sichtbar macht, zu denen die Liebe mitunter treibt, wenn ihre Nöte gefangen nehmen.

Das Publikum geht begeistert mit. Man spürt, dass die Gefühle ankommen, etwas auslösen, eigene Erfahrungen aufrufen. Schade, dass man danach ohne Premierenfeier auseinander geht. So viel, das man sich zu sagen gehabt hätte. So viel, das weiter gärt. Der Applaus will nicht enden an diesem Abend.