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Deutsche Musicals, Rockopern, Sakralrock und andere verheißungsvolle Aufbrüche

11.09.2007

Die Musicalszene beleuchtet Frank Herkommer

Deutsche Musicals, Rockopern, Sakralrock und andere verheißungsvolle Aufbrüche

Eine Bestandsaufnahme von Frank Herkommer

Roger Boggasch ist eitel genug, um selbstkritisch zu sein. Zum Millennium hatte der damalige GMD in Hof gemeinsam mit seinem Intendanten und Librettisten Johannes Reitmeier das Musical „Nostradamus“ komponiert. Bei Zeitenwenden haben apokalyptische Themenreiter Konjunktur. Hinter dem Euphemismus „work on progress“ versteckt sich notdürftig die Prolepse von imaginiertem Werk vor der ersten komponierten Note „Ein bisschen wie Rossini“, meint Boggasch, „heute gebracht, morgen gemacht.“ Keine zwanzig Jahre off broadway Phase, aber immerhin: Vier Produktionen an vier Häusern, schmerzhafte Kürzungen, sanfte Korrekturen, sensationelle Erfolge. In Passau etwa das bestausgelastete Stück. Ebenso in Hof. In der Musiksparte am Pfalztheater Kaiserslautern. Am Landestheater Bayern.

„Wir beiden hatten zu wenig Ahnung vom Metier der Vermarktung", räumt der Komponist ein. Die Verlage werden überschwemmt von Angeboten, ohne Beziehungen läuft es wie in Buchlektoraten: Ungelesen mit guten Wünschen zurück. „Es geht nach Popularität in diesem Geschäft. Nur wo man dich kennt, hast du eine Chance.“

Die mediale Aufmerksamkeit blieb abgesehen von Fachzeitschriften jeweils regional begrenzt. Boggasch sieht nur eine Chance, deutsche Stücke wie „Nostradamus" dauerhaft auf die Bühnen zu bringen: Eigenvermarktung. Ein Investor, der den Mut hat, eine eigene Spielstätte mit Ensemble zu finanzieren. „Das Stück selbst findet seine Zuschauer", zeigt sich das Multitalent überzeugt. „Mit vier Millionen Euro wären wir dabei."


Andy Kuntz, blondgelockter Samson aus der Pfalz, ist Kult. Wie jeder wahre Fußballfan seinen Cousin und ehemaligen Nationalspieler Stefan kennt, hat sich der Sänger mit der Gruppe Vandenplas einen weltweiten Namen im exklusiven Bereich des „progressive rock“ gemacht. Die CDs haben die Verkaufszahl von 200.000 längst überschritten. Am Pfalztheater vor gut 20 Jahren dann die ersten Solobühnenerfahrungen. Was heute nahezu unvorstellbar ist, die Rocky Horror Show läuft zwei Jahre lang mit über 50 Vorstellungen. Die vergangene Saison singt der Autodidakt den Super-Star Judas in Augsburg bei den Festspielen vor 50.000 Zuschauern in einem Monat. Der Tod des Vaters führt zur verstärkten Auseinandersetzung mit transzendentalen Themen. Kuntz begegnet dem ägyptischen Isis- und Osiris-Mythos, setzt ihn mit Vandenplas um in eine sehr persönliche CD „Abydos“.


Und wieder taucht der Name Johannes Reitmeier auf. Mittlerweile Intendant am Pfalztheater, hat er den Mut, den Auftrag für eine gleichnamige Rock-Oper zu erteilen. Das Stück wird zum Renner: 24 Vorstellungen bis dato. Die Texte des gelernten Nähmaschinenfeinmechanikers wirken manchmal ein wenig zu erklärend, um dann wieder Baudelairesche Sprachgewalt, außergewöhnliche Poesie und kühne Metaphorik aufblitzen zu lassen.

Unter den Musicalprotagonisten der stets optimistische Charismatiker, sieht Kuntz einen riesigen Bedarf an Produktionen, die vom Schema F abweichen. Er zeigt sich überzeugt, dass man in Deutschland geradezu auf Leute warte, die sich etwas trauten. Und dass auf genügend Vernetzungen zurückgegriffen werden kann, um die Stücke auf deutsche Bühnen zu bringen.


Mit in Augsburg dabei Sängerin Astrid Vosberg, seit Jahren mit festem Engagement am Pfalztheater. Sie ist gewissermaßen die Konstante unter den variablen Produktionen. Wer sie in die Operetten- und Musicalsparte einsperren möchte, sieht sich spätestens seit ihrem sensationellen Erfolg in Schönbergs „Pierrot lunaire“ eines Besseren belehrt: Gewogen und als künstlerisches Schwergewicht befunden. Bundesweit feiert sie Triumphe als Lola Blau in Kreislers one woman Stück. Längst nimmt sie nur noch Rollen an, die ihren Vorstellungen entsprechen: Sperrige Charaktere, mit Brüchen und Abbrüchen, Umwegen und Irrwegen. Das Eindimensionale ist das Unwahre. Sie, die Deutschland weit alle großen Musicalrollen gesungen hat, zeigt sich überzeugt: Es gibt einen Markt für den Nostradamus, sie sang die Katharina von Medici, weil die Wahrheitsfrage wieder auf der Agenda stehe. Die Sperre bestehe vielleicht in der (noch) zu großen Ausstattung. Und Abydos, wo sie auch eine der drei Hauptrollen sang? Das Stück sei kontingent, analogielos, habe ein riesiges Potential und bei weiterer Bearbeitung große Chancen, auch weil Vandenplas und Andy Kuntz immer bekannter würden. Immerhin war es für Dr. Ulrich Peters, frisch inthronisierter Münchner Intendant am Gärtnerplatz, der Anstoß, eine Rockoper für diese Saison in Auftrag zu geben: „Christ-O". Es wird nicht überraschen, dass Astrid Vosberg zum Vorsingen eingeladen war.


München, Café Schmock Boker, mitten im Umzug von Augsburg in die bayerische Metropole, nimmt sich Dr. Peters eine Stunde Zeit für Opernnetz.de. Ihm ist bewusst, auf welch vermintes Gelände er sich mit seinem Amtsantritt begibt. Die Süddeutsche hält ihn für einen Provinzler und straft ihn bislang mit geflissentlicher Kaumbeachtung. Aber das Projekt „Christ-O" war dann doch eine erstaunte Zurkenntnisnahme wert. Das verwöhnte Südstaatenpublikum ist dafür bekannt, dass es den Daumen in beide Richtungen bewegen kann, begeistert wie gnadenlos.

Umso mutiger erscheint Peters Auftrag an Vandenplas: den Plot des Grafen von Monte Christo umzusetzen in eine Rockoper. Hätte er die Nummer eins in der Szene, Frank Nimsgern angefragt, wäre er auf der sicheren Seite gewesen. Aber sein Jugendtraum war rockiger. Er räumt ein, dass seine Protagonisten nicht die in München berühmten Stars sind, aber für ihn ist die Idee der Star. Eine vorhandene CD gab, wie schon bei Reitmeier, den Ausschlag. Der hermeneutische Kunstgriff von Andy Kuntz besteht in der Veränderung der Erzählperspektive. Peters weiß, dass er sich keinen Flop leisten kann. Eher würde er die Premiere vom April nach unbekannt verschieben. Aus jedem Wort ist zu spüren: Soweit wird es nicht kommen. Das Konzept wurde gemeinsam in Augsburg entwickelt. Komplex, ohne zu kompliziert zu sein. Mit Dialogen wie in der Opera comique. Derzeit läuft die work on progress-Phase. Sein Optimismus hat auch einen Grund in der Einschätzung des Komponisten Werno von Vandenplas. Der Intendant hält ihn für einen Glücksfall für die deutsche Rockszene. Und wie reagierte das Haus? Überrascht, doch mit positiver Neugierde und großer Offenheit.

Peters plant, auch mit Nimsgern zu arbeiten. Und er kann sich vorstellen, Nostradamus an den Gärtnerplatz zu bringen. Vernetzungen bestehen zu beiden Komponisten. Die Chance gegenüber dem scheinbar übermächtigen Angloamerikanischen Musical? „Wir binden viel mehr Künstler der Häuser ein. Das ist unser Vorteil.“


Johannes Reitmeier, von Hause aus Bajuware, fehlt trotz seiner Jugend nur noch das entsprechende Körpergewicht zur barocken Persönlichkeit. Hätte er katholische Theologie studiert, der Bischofsring wäre ihm auf brokatenen Samtkissen angetragen worden. Die Musen müssen an seiner Wiege eifersüchtig Schlange gestanden haben im Streit, wer ihn zuerst küssen dürfe. Seit Jahren surft der Lautrer Intendant zum Vergnügen eines begeistertern Publikums von einer großen Erfolgswelle zur anderen. Der Vater von „Nostradamus", der Entdecker und Mitgestalter von „Abydos", längst sitzt der perfekte time manager am nächsten Projekt. Die Fäden der neuen deutschen Musicalszene samt ihrer Derivate laufen immer öfter in seinen Händen zusammen. Auch Frank Nimsgern zeigt an gemeinsamen Projekten Interesse. Die Mediavistik hatte es dem angehenden Mittvierziger schon in seiner Studienzeit in München angetan. Vor 21 Jahren setzt er erstmals „Ludus Danielis“ in Szene, die Liebe zu dem Mysterienspiel lässt ihn nie wieder los.

Zwanzig Jahre später die Metamorphose: Er lässt Günter Werno von Vandenplas das Stück bei bleibender Notation komplett neu arrangieren, um in dieser Saison in übertiteltem Latein Uraufführung am Pfalztheater zu erfahren. Der Urtext ist als einer der wenigen aus dem Mittelalter fast vollständig überliefert, den Rest hat Reitmeier mit den Lateinlehrern seiner Schulzeit und unter Zuhilfenahme der Vulgata erarbeitet. Er weiß sich eingebunden in eine Renaissance der alten Sprachen bei jungen Menschen. Männer wie er sind gemeint, wenn Andy Kuntz von den Mutigen spricht, die vom Schema F abweichen. Mit dem unschätzbaren Vorteil, gleichzeitig für das Programm eines Hauses verantwortlich zu zeichnen. Sicher, das Glück ist ein Wendehals und die Götter nicht frei von Neid, aber der Vertrauensvorschuss, den Reitmeier mittlerweile im Südwesten genießt, reicht für drei Peymanns und fünf Bieitos. Abydos weiter verschlanken und Nostradamus professioneller vermarkten, darin sieht der Intendant die Chance für zwei Stücke, die ihre absolute Bühnen- und Theatertauglichkeit längst bewiesen hätten. Auch ohne Harvey, den Investor.


Wie verschieden Landsleute sein können, zeigt sich bei Günter Werno und Frank Nimsgern. Beide Saarländer. Beide zelebrieren Musik auf höchstem Niveau. Beide schöpferisch, als seien sie immun gegen das Burn-Out-Syndrom. Nimsgern, der Dynastiker. Seinen berühmten Baritonvater mit den zwei Grammy awards nicht zu kennen, grenzt an ein Sakrileg. Mit einem Werno trifft man sich. Ein Nimsgern empfängt, polyglotter Intellektueller mit globaler Salonerfahrung. Er setzt Trends. Werno lassen sie kalt. Hier der unspektakulär gekleidete Spitzwegsche Asketentyp, bei dem man sich klammheimlich sorgt. ob ihn nicht bei bleibendem Arbeitspensum das Romantikerschicksal der Schwindsucht ereilt, dort der modisch elegante, philosophierende künftige Grandseigneur, der es wahrscheinlich auch zu einem profitablen Schriftsteller hätte bringen können. Oder zum Topmanager. Oder zum Intendanten. Oder zum Hochschuldozenten.


Nach der Genese von Christ-Zero befragt, gibt Werno Ehre, wein Ehre gebührt. Holger Hauer etwa, Ideengeburtshelfer, mit Andy Kuntz jetzt Librettist, in München der Regisseur der Rockoper. Während Kuntz noch die dritten und vierten Himmel ausschreitet, sieht sein Co-Autor schon die Bretter vor Augen, die die Welt bedeuten. Man muss mit gezielten Fragen den Scheffel lupfen, um den bescheidenen Werno ins rechte Licht zu rücken. Um von seinen Plattenerfolgen zu erfahren, großen Soloturneen durch die USA, Mexiko und Europa, berühmte Sänger, die mit ihm auftraten oder Kompositionen, die jeder aus dem Fernsehen kennt.

Die Hermeneutik der Rockoper vergleicht der Künstler mit dem russischen Strukturalismus, das transformierte Stück lebt hier wie dort von dem Bekanntsein seiner (literarischen) Vorlage. Gleichzeitig liegt die Hauptlast vom Ludus Danielis auf seinen Tasten. Sein Sakro-Rock, erklärt er mit nüchterner Emphase, tue der Vorlage keine Gewalt an. Im Gegenteil: „Das waren die Rocker und Jazzer des Mittelalters im Vergleich zur Polyphonik der Barockmusik.“ Werno deutet an, dass es in deutschen Theaterlanden ernstes Interesse für Abydos gibt. 2009 seien, nebenbei bemerkt, bei Vandenplas noch Kapazitäten frei.


Mit gerade 37 bereits der Nestor der deutschen Musicalszene zu sein, das hat Frank Nimsgern erreicht. Aber wie Ahasver jagt er den nächsten Erfolgen entgegen, keiner ist in diesem Alter gerne der Verwalter einer noch so grandiosen eigenen Vergangenheit. Dualistische Themen zwischen Himmel und Hölle, Revelationsschemata, Erlösungsmotive, psychoanalytische Schriftsteller wie Poe und Märchenmythologumena haben es ihm angetan. Im Dezember kommt sein Ring in Bonn zur Uraufführung. Es war der metaphysische Aspekt der Macht, die den Künstler gereizt hat. 99 bringt ei „Elements“ auf die Berliner Bühne. Wie bei Reitmeier und Boggasch ein Stück zur Jahrtausendwende. Unglaubliche 750 000 Tickets finden reißenden Absatz, 425 Vorstellungen, Zahlen, die in Deutschland sonst nur ein Lloyd-Webber erreicht. Drei seiner Musicals laufen zwischen 98 und Zwozwo gleichzeitig, das hat bislang noch kein Deutscher geschafft. Der Musiktheaterkomponist sieht gravierende Veränderungen in der Bühnenlandschaft. Größere Dichte führt zu kleineren Auslastungszahlen und kürzeren Laufzeiten, dasselbe Problem stellt sich auch im Mutterland des Musicals, Amerika. Sehr viel kleinere Budgets, weniger breit ausgebildete Künstler, fehlende off broadway Erfahrungen, darin sieht Nimsgern die Hauptunterschiede zu den Staaten. Seine Perspektive für die deutsche Szene: die Produktionskosten aufteilen. Sponsoren für mehrere Häuser gewinnen. Seine bestehende Nimsgern GmbH vermietet Produktionen an verschiedene Häuser, die mit eigenen Künstlern das Team anreichern - Theaterlizensierung lautet das Zauberwort.