Sie sind hier: Rezensionen
20.4.2024 : 5:56 : +0200

Jenufa in Leipzig

10.12.2008

Frank Herkommer erlebte für opernnetz.de eine sensationelle Susan Maclean als Küsterin

Jenufa

Glaubensfragen

Darauf hat Leipzig gewartet: Eine Operninszenierung, die das Innerste anrührt, eine Regie, die über das einfühlsame Zeichnen von Charakteren zu den großen existentiellen Topoi von unerwiderter Liebe bis doppelter Schuld vordringt. Wobei der Regisseur den ursprünglichen Skandal in einer katholischen Gesellschaft aufnimmt, der in der kirchlichen Funktion der Kindstöterin besteht, um ihn über zu führen in die grundsätzliche Zuordnung der Kategorien von Opfer und Schuld. Dietrich Hilsdorf steht mit seiner theologisch versierten Leipziger Jenufa in der großen Tradition der Isaakthematik, jenseits von Dogma, Frömmigkeit oder apodiktisch gesetzter Moral.

   

Fotos: Andreas Birkigt

Aus der herunter gekommenen Mühle der alten Buryja wird eine Kneipe inmitten von Verfall, der „Überbau“ bewohnt, aber kein Platz zum Leben. Die Alte sitzt draußen und schält gemeinsam mit Jenufa Kartoffeln, rurale Reste einer Utopie vom besseren Leben, während sich Laca eine Gerte schnitzt. Drinnen der Geldspielautomat, Schibboleth für platten Materialismus, an der Hausfront blättert das sozialistische Hoffnungsblau der Comecon-typischen Mosaiksteinchen ab. Diese „Zur Mühle“ vereint nicht alt und neu, sondern zeigt die Widersprüche und Unzulänglichkeiten im unversöhnten Nebeneinander und sich gegenseitigem Überbieten an Falschem und Unwahren. Davor eine notdürftig zusammen gehaltene Regentonne, auf der eine volksfromme Kitschmuttergottes thront, mit dem Rücken zum Publikum wie die Wahrheitssucher in Platons Höhlengleichnis.

Zigeunerinnen und lebende Hunde geben dem Ganzen Kolorit und der bedrängten Zuschauerseele Möglichkeit zur kurzzeitigen Distanzierung. Zwei Türme am vorderen Bühnenrand, die sich als Teil der Kirche herausstellen, nach oben gewachsen aus roten Backsteinen, die Krone aus hässlichem Zement, Symbol einer postindustriellen Kirchlichkeit, die sich den Normen der Industrialisierung und damit der sozialen Verwertbarkeit unterworfen hat, der Wahrheitsfrage aber ausweicht. Gleichzeitig schornsteinähnelnder Verweis auf das aschene Haar Sulamiths, das als Rauch in die Luft stieg bei dem Opfer kat’ exochen. Adornos Frage, ob man noch ein Gedicht schreiben könne nach Auschwitz, steht Pate. Das Versteck der Schwangeren unter einer Kirchenbank. Das Haus Gottes mit Plastik behängtem Altarraum, weniger einer Baustelle als einem notdürftig verwalteten Betrieb ähnelnd, dessen abgehängter und verhüllter Christus längst nur noch ein Winkeldasein fristet. Und am Ende geht diese Welt durchs Feuer, weil den Verstörten die Substanz zur Erneuerung fehlt, während Jenufa und Laca nur im Exodus eine Zukunft sehen.

 


Fotos: Andreas Birkigt

Die Inszenierung von Dietrich Hilsdorf lebt zum Einen von Bildern. Dieter Richter baut ein exzellentes Bühnenbild, dessen Realismus Sogwirkung ausübt, das die Anliegen der Interpretation gekonnt umsetzt, auf jedes überflüssige Mätzchen verzichtet und dabei dicht und bedrängend wirkt. Renate Schmitzer versteht es, die Geschichte mit zu erzählen, Charaktere ohne Überzeichnung auszustatten mit vielfältigen Kostümen, die dezent unterstreichen, Interpretationsspielträume belassen.

Das Gewandhausorchester unter Leitung von Axel Kober beeindruckt tief. Das Dirigat verzichtet auf hohlen Pathos, falsche Dramatik, setzt bedrängend Seelenvorgänge um, verdichtet das Geschehen und stellt eine unglaubliche Einheit zwischen Sängern und Orchester her. Große Musikinterpretation, der sich zu entziehen unmöglich erscheint.

Zum anderen lebt diese Inszenierung von Protagonisten, die stimmlich und schauspielerisch „griechisch“ agieren können. Susan Maclean als Küsterin - eine Offenbarung. Inbrünstige Gotteskämpferin, inkarnierte Theodizee, dann wieder stolz-hoffärtige Hüterin des Lebens, von den Erynnien gejagte Zweifelnde, Liebende und Fürsorgliche, Verächtliche und sich Demütigende, Schuldige und Mater dolorosa, mit Eisplatten zu Steinigende, wie die biblische Ehebrecherin, an Tochters Statt, Schuld und Stellvertretung, christologische Ikone, Gefühlsversuchung und Abwehr der Kindesliebe, einvernehmendes Unterhaken bei dem Vertreter weltlicher, bedauernder Gerechtigkeit, ihr Körper zeichnet alle Befindlichkeiten und Seelenlagen in die Rolle ein, ihre Mimik kommt aus den Tiefen der Seele, ihre Stimme aus einer anderen Welt: Seelenoffenbarung, virtuose Gefühlsmalerei, spielerisch durch die Oktaven, expressiv, an der Grenze zum Mysterium. Eine absolute Weltklasseleistung, um es prosaisch auszudrücken. Marika Schönberg in der Rolle der Jenufa ideal besetzt: das töricht-unbedarfte junge Ding, das einen Reifungsprozess durchlebt. Marika Schönberg spielt nicht, sie lebt diese Entwicklung, mit einem jubelnd schönen Sopran der Spitzenklasse. Diane Pilcher singt und spielt die alte Buryja, mit einer Stimme, die alles, nur nicht alt klingt. Bejubelte Leistung. Raymond Very: ein unglaublich differenzierter Laca, dessen schöne, hoch kultivierte Stimme der Rolle ihr anspruchsvolles Gepräge gibt. Den Schönling und oberflächlichen Hedonisten Steva singt und spielt meisterhaft Thomas Ruud. In den weiteren, durchweg anspruchsvoll besetzten Rollen Jürgen Kurth als stimmgewaltiger Altgesell, der vorzügliche Roman Astakhov als Richter, Kathrin Göring in der kleinen Rolle seiner Frau, der sie Profil zu verleihen versteht.

 

Das Publikum lässt sich ein auf diese Seelenwanderung. Tränen fließen, nicht nur beim angeblich schwachen Geschlecht. Minutenlanger Pausenapplaus. Standing Ovations und tiefen Respekt ausdrückender Applaus am Ende. Seit langem ungeteilt auch für das Regieteam. Jeder spürte: Die Oper Leipzig erlebte gerade einen großen Abend.

 

Fotos: Andreas Birkigt