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20.4.2024 : 16:28 : +0200

Cage aux folles am Gärtnerplatz

15.12.2007

Über eine hinreißende Inszenierung, große Gefühle und Travestie berichtet Frank Herkommer in opernnetz.de

Kult am Gärtnerplatz

Bevor noch der erste Künstler die Bühne des Staatstheaters am Gärtnerplatz betreten hat, brandet immer wieder fröhlicher Beifall auf: Etliche Drag Queens haben es sich nicht nehmen lassen, dabei zu sein bei diesem „ tollen Fest“ (Klaus Hofmann, Salambo). Im vollen Ornat, schrill, unkeusch, die Gesichter unter mindestens zwei Caroline-Reiber-Schichten Schminke, der ganze Fummel eben, zwischen Billig-Boa und Fingernägeln, die einer Jackie Joiner-Kersee den Neidschweiß hervor getrieben hätten. Die Bühne kommt ins Parkett, das Authentische gerät zur Kunst, begrüßt unter großem Bohai, die schützende Distanz zwischen den beiden sich jeweils anderen Ufern schnarrt zusammen zum punctum mathematicum. Der Spießer in uns allen bekommt gleich mal die rosa Karte gezeigt. Eine Ahnung liegt in der Luft von unaufhebbarer Fremdheit, von schrill-greller Selbstbehauptung, von trotziger Verletzlichkeit. Das vermeintlich längst ach so vertraute Schwule verliert schlagartig seinen Gewöhnungscharakter, vorbei mit Anpassung, mit Normalität im Abweichenden. Jetzt heißt es mutig sein, die Ressentiments anschnallen (auch die der „ganz normalen Schwulen“, wie Georges sich im zweiten Akt bezeichnet), bevor auf der Bühne ein atemberaubendes Tempo angeschlagen wird, Drive, wie ihn der Gärtnerplatz seit Jahren nicht mehr erlebt hat. Regisseur Helmut Baumann, vielhundertfach gefeierter Albin der ersten Stunde am Berliner Theater des Westens, entfacht einen Rausch der Sinne, lässt ein Fest der Sinnlichkeit zelebrieren, ihm gelingt ein Drahtseilakt zwischen urkomischem Übermut und anrührender Anmut, zwischen großer Travestie und großen Gefühlen. Bevor der geraffte Folie-Berger-Vorhang aufgeht, gilt es nur noch, fairer Weise den berühmten, vom Genre her unvergleichbaren Vorlage-Film im Kopf abzuschalten, damit diese Produktion das wird, wozu sie absolut das Zeug hat: Kult.

Kultpriesterin Nummer eins - die Marti. Christoph Marti als hinreißende Zaza. Die rauchige Stimme geht glatt als Alt durch, Zarah Leander ein Bass dagegen. Schwebende Andacht wie bei einem Hochamt, wenn „Ich bin wie ich bin“ erklingt, Lichteraureole um den Kopf, halb Freiheitsstatue, halb Dornenkranz. Die ganze im Stück angelegte Ambivalenz gebündelt in diesem Bild. Chansonette auf Greco-Niveau und Erzkomödiant, vollendet komischer Slapstick. Mal voller Grazie, dann wieder Krawallalte, verletzlich und fordernd, seine/ihre Wandlungsfähigkeit beeindruckt tief. Wie die zum Scheitern verurteilte Einübung in das maskuline Auftreten umgesetzt wird, männlicher Albin als contradictio in adjecto - absolut sehenswert.

Trotz der überragenden Ausstrahlung, trotz in den Bann schlagendem Charisma keine Ein-Personen-Produktion, bei der die Übrigen zur Staffage verkümmern. Nicht nur, weil Hardy Rudolz in der Rolle des „ganz normalen Schwulen“, als „Ehemann“ Georges viel zu stark ist. Auch, weil Helmut Baumann die Rollen der „Grisetten“ seines Cage aux Folles enorm aufwertet. Nicht nur Chantal, umwerfend komisch in der Besetzung mit Dion Davis, auch die Peitschen schwingende Domina Hanna aus Hamburg (Jesko Himmelrath), Mercedes (Thomas Schimon), Phädra (Konstantin Krisch) und Derma (Volker Michl) verkörpern höchste Travestiekunst. Ihr Can Can zum Brüllen, ihr Tango unüberbietbar. Choreograph Jürg Burth hat allererste Arbeit abgeliefert. Lachmuskelkater garantiert. Beine, auf die manche Besucherin neidisch gewesen sein dürfte.

Kein Cage kann gelingen, wenn Jacob ausfällt. Wie gut, dass mit Norman Stehr eine wunderbare Besetzung gefunden wurde. Die Grenze zwischen Selbstironie, Parodie hier und flacher Albernheit dort trotz aller schrillen Tuntenauftritte souverän eingehalten.

Erfrischend jung, forsch und unmaniriert kommt der begabte Marc Lamberty als Hetero-Sohn Jean-Michel auf die Bühne. Milica Jovanovic ihm zur Seite, die überzeugende Tochter des Le Pen-Verschnitts Edouard Dindon (Gunter Sonnesonn, wunderbarer frauenfeindlicher Spießer, später im Reifenkleid zum sich Wegwerfen komisch!), Mutter Marie, chargierend zwischen Naivität und Neugier auf das wahre Leben, in der Besetzung mit Susanne Heyng ebenfalls ein Volltreffer. Rotraud Arnold als Madame Renauld eleganter Kontrast, Francis in der Besetzung mit Thomas Peters herrlich als Gips um Manschette mehr und mehr SM-geschädigter Lover der blonden Domina.

Das Orchester unter Leitung von Andreas Kowalewitz wird später zu recht mit Standing Ovations gefeiert. Stets auf der Höhe des Geschehens, ansteckend rhythmisch, ob schnell oder getragen, die dem Stück innewohnende Bewegung wird mitgenommen. Obwohl der Käfig zwei grundverschiedene Halbzeiten hat, gelingt es auch dank des Orchesters, die Einheit in der Verschiedenheit zu stiften.

Für das abwechslungsreiche Bühnenbild zeichnet ebenfalls Regisseur Helmut Baumann verantwortlich. Drehbühnentechnik verstärkt den Drive, der die Inszenierung auszeichnet. Stilisierungen statt Überzeichnungen. Aus dem Wohnzimmer etwa wird eine Andachtsstätte für Ultramontanisten. Man nehme dazu ein paar harte Hocker, violette Drapierungen als Tapeten und ein Kreuz, das von oben einschwebt. Schon scheint es, als sei der Chefdekorateur vom Vatikan am Werk gewesen.

Die Kostüme würden einen Preisaufschlag rechtfertigen. So viel Phantasie, soviel verschwenderischer, opulenter, detailverliebter Aufwand, den Uta Loher betrieben hat.

Das Publikum feiert den Mut von Intendant Ulrich Peters und die hohe Qualität sowohl der Inszenierung als auch der Aufführung gute zwanzig Minuten mit stehendem Applaus und Riesenjubel. Unter den Gästen zwei hingerissene Kessler-Zwillinge, die gegenüber Opernnetz von der besten Produktion am Gärtnerplatz seit vielen Jahren sprechen, von internationalem Flair, Esprit und Drive. Die Münchener Presse mag (noch) ein Problem mit dem frischen Wind am Gärtnerplatz haben, das Publikum jubelt längst und genießt.