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19.4.2024 : 19:39 : +0200

La Traviata von Achim Freyer in Mannheim

08.12.2007

Unter Regula Gerber erweitert das Nationaltheater seinen Ruf, neben Wagner und Verdi die Neue Mannheimer Ästhetik. Mit Weltregisseur Achim Freyer geling der Generalintendantin ein großer Zug, meint Frank Herkommer. Seine opernnetz.de -Kritik hier

Oper für Fortgeschrittene

Die Traviata erzählt von Menschen, die sich verändern, unter Schmerzen, den Geburtshelfern der Tragödie. Unterwegs auf ihrer via dolorosa, die keineswegs die Abwegige (Traviata) darstellt und in Freyers Lesart schon gar nicht die Abschüssige, stattdessen der Laufsteg des Lebens, in katharsischem Weiß gehalten. Dazu ein angedeuteter, mutmaßlicher Königsweg, der in Richtung Erlösung nach oben zu führen scheint, doch am Ende, wenn die Grube ruft, wie ein Klappmesser nieder fährt.

Drei Menschen, denen die Augen auf- und übergehen. Die Welt mit anderen Augen zu sehen, genau hier knüpft Achim Freyer, einbezogen in die Neue Mannheimer Schule unter Regula Gerber, mit seinem ästhetisierenden Regieansatz an, indem er eine veränderte und den Zuschauer verändernde Wahrnehmung (aisthesis) vermitteln möchte. Statt kurz wirksamem, opulentem Bildersturm, der über das Publikum fegt, feines Säuseln, das die Tiefenschichten der Seele zu erreichen sucht und nachhallen möchte. Statt gewohnter, Taschentuch feuchtender Rührung subtil Anrührendes. Den Blick auf die Korrelation von Opfer und Akt der Freiheit zu eröffnen, den Untergang als Entelechie jeder Existenz zu bejahen und dadurch zu verwandeln, eines seiner Anliegen.

Freyer hat den Mut und die Souveränität, sich Erwartungen zu verweigern und Rezeptionsgewohnheiten zu enttäuschen. Er malt Oper für Fortgeschrittene, am besten mit vorlaufender Aneignungsgeschichte, indem er die zweifellos im Stück (und bei der Musik Verdis im Besonderen) angelegte pathetische Dynamik überführt in eine nachwirkmächtige Dynamis, in die Potenz des Schönen, der Stilisierungen und des Fragmentarischen. Der Meister des pars pro toto, der Apologet des Erhabenen, der Verfechter des Symbols, der strenge Farbenlehrer, der Einweiser in choreografische Körpersprache bedient sich in Mannheim des gesamten Registers seines Könnens.

Er kultiviert Atmosphären, verdichtet sie, begrenzt Räume und Menschen, etwa durch Staffagen, um die Auseinandersetzung mit dem Göttlichen, das in Gestalt der bedrohlichen Moira, der sich der Konventionen bedienenden Ananke, diese hypostasierte Zwangsläufigkeit, in das Leben der Protagonisten einbricht, dem Zuschauer überhaupt erst zu ermöglichen. Einmal mehr wird sichtbar, dass Freyer die Etheologie beherrscht wie kaum ein anderer.

Unterstützt wird er dabei von Tochter Amanda Freyer, zuständig für die kohärenten Kostüme. Der Chor im Einheitsweiß, alle tragen den unisex Schwalbenfrack, Perücken, die an kreisrunden Haarausfall erinnern, Stigmata der Vergänglichkeit. Staffagen der Befindlichkeiten, in die zu schlüpfen ebenso unumgänglich ist wie sie zu wechseln, weil die nackte Existenz sich nicht genügt, rot wie die Liebe, schwarz wie die Trauer. Vater Germont in klerikalem Violett, den Überbau von Moral und Konvention symbolisierend. Der berühmte Stierkampf in Sack und Asche, der nur vermeintlich so zu deutende Holzweg von Freyer senior schnell umfunktioniert in die Bande der Arena; an anderer Stelle in den Rechen des Croupiers mutierend, der die Jetons einsammelt, diese als Schuhe, Symbole für das, was uns Halt gibt und unbeschadet durchs Leben gehen lässt. Angewandte Farbenlehre überall.

Achim Freyer selbst lässt das rechte Licht auf das Bühnengeschehen werfen, gemeinsam mit Andreas Rehfeld.

Die Regie verlangt den Sängern unglaublich viel ab. Die Nebenrollen burlesk angelegt, Annina zum barbusigen alter ego, zur Spiegelung und zum Rohrschacht-Mysterium aufgewertet. Katrin Wagner füllt die Rolle mit Bravour. Sie erreicht jene Synchronität, die über das Gelingen mit entscheidet.

Dass die Oper zu Recht La Traviata heißt, obwohl sie drei tragende Rollen vorzuweisen hat, zelebriert Cornelia Ptassek als Violetta. Ergreifend in den überragenden Piani, strahlend in den Duetten, klangfarbenreich und differenziert, eine absolute Spitzenleistung. Auch schauspielerisch eine Freyersche Augenweide. Alfredo Germont meisterlich gesungen und gespielt von Jean-Francois Borras. Sein eleganter, erotischer Tenor gibt der Figur die adäquate Färbung. Anrührend, wie Thomas Berau den Parkinson-geronnenen Ausdruck des zur Empathie anfänglich unfähigen Giorgio Germont mimt, um dann ein menschliches Gesicht zu bekommen. Stimmlich überragend und ebenso bejubelt wie seine beiden Kollegen. Ein Trio, das alleine schon den Besuch zum Muss macht.

Nahtlos an die hohe Qualität knüpfen die Nebenrollen an: Yanyu Guo als Flora, Tobias Haaks als Gastone, Boris Grappe in der Rolle des Baron Douphol, Martin Busen als Marquis, Patrick Schramm gibt den schrägen Doktor Grenvill.

Choreografisch, schauspielerisch und sängerisch eine große Darbietung gebend der Chor unter der Leitung von Tilmann Michel.

Das Orchester. Nach anfänglichen leichten Wacklern steigert sich Rolf Gupta zu einem fulminanten Dirigat. Er begleitet die hochsensible, Detailtreue abverlangende, stimmiges timing erzwingende Inszenierung mit Verve und Präzision.

Das Publikum: Zum Davonlaufen, während des hoch verdienten Applaus für die Künstler in Massen davon zu laufen. Verfall der Sitten leider auch in der Theaterstadt Mannheim. Empörte Buhrufe und begeisterte Ovationen halten einander die Waage, als der Meister die Bühne betritt. An Freyer scheiden sich die Geister, sofern ein solcher überhaupt vorausgesetzt werden darf. Wer eine Nacht über die Aufführung geschlafen haben wird, wird erfreut/beschämt sein, wie viele deren Bilder ihn im Traum besucht haben.