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Turandot am PT

18.05.2005

Urs Häberli gelingt eine weit über die Pfalz austrahlende überragende Turandot- Inszenierung am Pfalztheater.- Frank Herkommer schreibt für opernnetz.de seine Rezension

Geschlechterkampf

Große Kunst an (relativ) kleinem Haus mit unwiderstehlichem Gänsehauteffekt. Dass Kaiserslautern mehr zu bieten hat als Fußball und zugegeben herrliche Wälder, stellt Urs Häberlis überzeugende Turandot-Inszenierung (Dramaturgie Andreas Bronkalla) am Pfalztheater einmal mehr unter Beweis. Diese Performance, gesponsert von den Musikfestspielen Saar, mit ihren 204 beteiligten Akteuren, gehört zweifellos in die Championsleague.

Überhaupt: Seit Johannes Reitmeier sein Intendantenamt in der Westpfalzmetropole angetreten hat, geht es besonders in der Musiksparte steil bergauf: Insidertipp – Geheimtipp - Topptipp. Dass nur die Alfano-Fassung in Frage kam, erschließt sich aus Häberlis konsequent durchgehaltenem Ansatz, den Geschlechterkampf archetypisch herauszuarbeiten. Das ist ihm prächtig gelungen. Wie Eugen Drewermann das Märchen von „Brüderchen und Schwesterchen“ tiefenpsychologisch als Figuration des alter ego deutet, stellen Liù und Turandot für ihn die beiden Möglichkeiten in ein und derselben Person dar: Der Turandot-Anteil hart, verweigernd , die ewige Liù in ihr weich, empfindsam, hergebend. Der Sklavin Wiedergeburt im Schlussakkord der erlösten Prinzessin, keine Lösung kann dramatischer und mythischer sein. Tua fabula narratur.

Häberli und Bronkalla unterliegen weder der Versuchung, den Verlockungen einer pompösen Ausstattungsoper nachzugeben, noch trivialisieren sie durch Zeitreisen, etwa in das China Maos, die das Zeitlos-Mythische unnötig überdeckten.

Thomas Dörflers vortreffliches Bühnenbild transzendiert die Verbotene Stadt in ein Labyrinth. Rettender Ausgang offen. Das gilt übertragen für die Seelenlandschaften der Protagonisten. Fragmenthaft bleibende Wände, Mauern, mit Brechungen und Übersteigbarkeiten. Breschen für die Geschichtlichkeit und damit Entscheidungsfähigkeit des Menschen. Puzzles, als deren Fehlstücke das Humanum eingesetzt werden kann. Der emotionslos schwebende Silbermond aus Plexiglas und Stahlrohr, so kalt und jenseits des wahren Lebens wie die auf ihm thronende, unerlöste Turandot. Und doch auch hier ein Menschliches: Der Einzelne geht nicht auf im Mythos und auch nicht im ewig präsenten Volk.

Anette Heraeus, Grande Dame des Pfalztheaters, schuf eine Augenweide. Ihre klarlinigen Kostüme transportieren Botschaften. Zugehörigkeiten. Dem (Bühnen- und Parkett-)Volk wird es leicht gemacht, etwa Liù und Timur dem zu entzaubernden Calaf zuzuordnen. Die Maske vor dem Gesicht der angebeteten Mondgöttin Turandot: Was für ein kluger Einfall! Der archetypische Mann liebt anfangs nur das (kalte und nichts sagende) Äußere, den schönen Schein. Die Chöre ohne jeden Folklore- Kitsch.

Das große Orchester unter Francesco Corti. Furios! Brausend, tosend. Konzentriert, die Instrumente klar unterscheidbar, Tempi forcierend und spielerisch-bruchlos herausnehmend, an der Grenze zum Mysterium und damit des seelisch noch Aufnehmbaren, exotisch und dennoch vertraut. Gesang unterstützend, begleitend, gewollt phasenweise die Führung übernehmend Eine engagierte Meisterleistung des gesamten Orchesterteams. Da capo, Maestro!

Darf man aus einem grandiosen Ensemble zwei einzelne Protagonisten hervorheben? Man muss! ‚A one’ Rachael Tovey, englischer Gast aus Bremen, als Turandot. Was für eine herrliche, treffsichere, voluminöse Stimme! Als wäre dies noch nicht genug aus dem Füllhorn der Begabungen, dazu noch eine eindrucksvolle Mimin. Anhören! Ansehen! Carlos Morenos Calaf! Der Gast-Spanier sang sich in einen wahren Rausch. Ebenso herrliche, sichere Stimme, überzeugende Darstellung. Wie Tovey überwältigend. Laurie Gibson als Liù die ideale Besetzung, um mit ihrer glockenreinen, vogelgleich in schwindelnde Höhen abhebenden Stimme sowohl Verletzbarkeit als auch Reinheit des Charakters zu transportieren. Anmutig und hinreißend, anrührend. Steffen Schanz, junger Tenor vom Haus, mimt meisterhaft den alten Kaiser. Seine Stimme weckt einmal mehr große Hoffnungen. Als Timur Hidekazu Tsuyama, souverän und glaubwürdig.

Voll sprühender Sanges- und Spiellaune, die ganze Spannweite zwischen Subversivität, Ironie, burlesker Überlebensfreude, Virilität und Servilität ausschreitend Ping, Pang, Pong, Deuter und Akteure. Getriebene und Treibende. Paraderollen für den zur Vollendung drängenden Mario Prodrecnik, der eben ein Erzbuffo, aber keineswegs nur der ewige ist, Dorin Mara, dessen schöne Stimme wie für das Italienisch geschaffen zu sein scheint und der stimmlich ebenso überzeugende Hans-Jörg Bock. Die Chöre meisterlich eingestimmt von Ulrich Nolte. Große Choroper, mit präzisen Einsätzen, hervorragender Choreographie, Lichteffekten, die zum Gänsehauteffekt entscheidend beitragen.

Publikum: Begeistert. Das halbe Haus steht, minutenlang anhaltender, brausender Applaus