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Il barbiere di Siviglia- Ein Weihnachtsgeschenk des Nationaltheaters an Mannheim

07.12.2010

So geht Märchen, so geht Commedia dell`arte- das Resumée von Frank Herkommer auf opernnetz.de über die Inszenierung der Rossini-Oper, für die Monique Wagemakers verantwortlich zeichnet

 

Fröhliche Bescherung in Mannheim

Monique Wagemakers gelingt am Nationaltheater Mannheim Außergewöhnliches und Beglückendes: Sie erzählt eine eigentlich und hinlänglich bekannte Geschichte, und doch überkommt einen bereits nach wenigen Augenblicken das Gefühl, sie zum ersten Mal zu hören, nein: mitzuerleben. Unwiderstehlich hineingezogen zu werden in ihre Dramatik, ihre Komik und Spannung, sich begeistern zu lassen, mit zu bangen, dass nur ja keiner den Kairos verpasst (oder versaut) und die Liebenden nicht den „geneigten Augenblick“ (Sappho). Die Regisseurin stiftet klug und mit Raffinesse eine Unmittelbarkeit, eine Konzentriertheit, dabei ganz nah an Rossini, der Gefahr des Historisierens souverän widerstehend (ihr Graf kann fern jeder Lächerlichkeit in zeitgenössischer Gewandung auftreten, mit Granden-Perücke und adelsweißen Puderwangen, ohne Bruch mit dem knallroten Papagallo-Mafioso-Verschnitt Figaro) und doch das von Anfang an Gemeinte zur Bühnenwelt bringend. Weil sie der Geschichte nicht etwas beilegt oder aufsetzt. Sie betätigt sich in bester sokratischer Tradition als Hebamme der intendierten Aussage; nacherzählen heißt eben nicht nur nachplappern. Faszinierend, wie Wagemakers die Alternative Schwerpunkt auf Musik oder den Text überwindet. Ihr Geheimnis: Eine so selten zu findende Kongruenz zu erspielen zwischen Ton, Text und Protagonisten. Bühnengeschehen hier, das nicht zerfällt in einzelne Sequenzen und Ebenen, das eines wird, und dort die Zuschauer gehen bald eine Symbiose der Verzauberung ein; die Zeit wird für einen kostbaren Moment aufgehoben, ein Angelt der Ewigkeit, aus der keiner erwachen möchte an diesem Abend. Eine Art mimetische Rückführung, wenn Töne zu Sinnträgern werden, nicht weil Rossini so platt komponiert hätte, der bekanntlich nicht mit jedem Ton „dem Sinn der Worte auf Schritt und Tritt folgen“ wollte, sondern weil Monique Wagemakers Personenführung so vorzüglich beherrscht. Dazu Texte, die durch sie sprechen lernen, die „geschehen“. Wenn von der Höllenmaschine die Rede ist, zu der nun die oberkörperfreien, hosenträgerbestückten und testosteronglatzigen Soldaten mutieren, aber erst im Kollektiv. Denkanstoß statt Ideologie. Eine Inszenierung mit Geist, Humor, Esprit, denen sich kaum einer zu entziehen mag. So geht Märchen, so geht Komische Oper.

Ein Bühnenbild, für das Dirk Becker verantwortlich zeichnet, das an intellektueller Brillanz und Verschmitztheit in nichts nachsteht. Zimmerflucht bekommt einen neuen Klang, wenn die Räume wandern, (fast immer) synchrone Darstellungen ein und desselben Vorgangs aus verschiedenen Perspektiven, mal zwei gleichgeschaltete Ebenen, bei denen unten und oben aufgehoben werden, dann simultan Revers und Avers und das Publikum quietscht vor Vergnügen wie seit dem unerwarteten Auftauchen des Kasperle nicht mehr. Vor dem Wanderhaus eine der commedia dell'arte gemäße Fläche, zwischen Bocciafeld und Fläche eines gestreckten Billardtisches, das Spielfeld fürs Studium der Charaktere, die aus dem Rahmen treten und sich genau darin treu bleiben. Farbe bringt bei diesem Bühnenbild hauptsächlich das Geschehen ins Spiel, mehr im Bild wäre eine plumpe Überzeichnung.

Die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer: Ein Kaleidoskop der liebevollen Details. Ein Notar, der hundert Jahre Aktenstaublunge ausatmet, ein Männerchor, der griechisch funktioniert, mal steht er für die Wiederherstellung der moralischen Ordnung (wenn er außerhalb des eigentlichen Bühnenbildes und in Anzügen die geheilte Norm widerspiegelt), dann als Höllenmaschine oder als Soldaten ohne Gesicht. Hier rote Schuhe, da rote Haare, alles passt, Rosina ist die Göre, das Dienstmädchen antiquiert, köstlich der doppelte Basilio mit beweglichem Spitzbart, alles so bunt und ironisch gebrochen wie das wahre Leben.

Das Orchester bietet an diesem Abend eine atemberaubend schöne Rossini-Interpretation.

Alois Seidlmeier stellt eine toskanische Leichtigkeit in den Raum, eine Heiterkeit, die auf laute oder bombastische Töne verzichten kann. So leicht kann Italianità daher kommen, Pointen setzend und unterstreichend. Dann wieder liebevolle, andienende Begleitung der Stimmen, die gelegentlichen Wahnsinnstempi spielend leicht anmutend, nie fordernd mitgehend. Der Sturm der Begeisterung am Ende der Vorstellung berechtigt.

Boris Grappe begeistert als Figaro nicht nur in der berühmten Überforderungsarie des Faktotums. Ein technisch ausgereifter Bariton, voller Eleganz und Präzision, präsent und spielstark. Marie-Belle Sandis glänzend disponiert als Rosina, jede Seelenbewegung wird doppelt umgesetzt, stimmlich wie schauspielerisch. Kleines Mädchen mit großen Gefühlen, und eine Stimme mit großer Ausstrahlung. Juhan Tralla fängt schwach an, um sich grandios zu steigern. Schauspielerisch keine Wünsche offen lassend, merkt man ihm anfangs eine gewisse Unsicherheit an, nachdem gleich die ersten Spitzentöne zu dünn geraten waren. Man hört (nur) die nächsten Minuten (am Atem) sein Bemühen, der zu werden, der er ist: ein Tenor der Spitzenklasse, der der Rolle des Almavíva Glanz zu verleihen in der Lage ist. Jetzt ein großartiges Hörerlebnis. Was für ein Charakter: Thomas Jesatko in der Rolle des mehr geld- als altersgeilen Bartolo. Mächtig. Bräsig. Eine Stimme so gewaltig, als solle er das Jüngste Gericht ankündigen. Radu Cojocariu wird gefeiert für seine Interpretation des Don Basilio. Seine Stimme brilliert durch ihre Klarheit und Konzentration, unangestrengte Weite und Gefühlsechtheit. Katrin Wagner füllt die kleine Rolle der Marzelline ebenso ansprechend und liebevoll aus wie Nikola Diskić seinen Fiorillo und seinen Offizier spielt.

Ja, es stand bereits in meinen Notizen. Aber das glaubt mir doch kein Mensch. „Diese Inszenierung ist ein wunderschönes Weihnachtsgeschenk nicht nur für Mannheim“. So sprach der Herr auf der Treppe zur Garderobe. Mitten unter strahlenden Gesichtern. So viel Zwischenapplaus, Pausenapplaus, Schlussapplaus. Selbst das Regieteam wurde überschüttet mit Bravorufen. Weihnachten in Mannheim, Bescherung am 3. Dezember.