Theater Trier und Anatevka
Als Beitrag zum Gedenken an die Reichspogromnacht deutet Frank Herkommer eine sehenswerte Inszenierung des Musicals Anatevka in Trier- mit Dunja Rajter, für opernnetz.de
Fotos: Friedemann Vetter
Tradition
Trier setzt Zeichen: Mit Anatevka leistet das Theater seinen Beitrag zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht, jenes zynische Ausloten des Widerstands auf dem Weg zur Shoa. Peter Zeug stellt in seiner sensiblen Inszenierung den Begriff der Tradition in den Mittelpunkt und leistet damit ein Doppeltes: Die Bewusstmachung, wie tief das Judentum in unsere kulturelle Tradition eingewachsen ist und welche Selbstverstümmelung Europas dessen versuchte Auslöschung letztlich bedeutet. Er weckt so ein Gefühl dafür, dass die Anderen nicht Fremde sein müssen, sondern ein Teil unserer eigenen Identität, die sich grundsätzlich aus jeweils Heterogenem zusammenfügt. Zum andern stellt er den osteuropäischen Antisemitismus im zaristischen Russland in die Tradition der vorausgehenden und nachfolgenden jüdischen Leidensgeschichte, lässt dem widerfahrenden Leid sein der Phantasie und Empathie gerade noch erträgliches Maß, nimmt den Pogromopfern nicht ihre einzigartige Geschichte, indem er sie in das schwarze Erkenntnisloch der späteren Shoa aufsaugen ließe durch Transferversuche auf die kommenden Verbrechen des Faschismus.
Gerade die Werktreue Peter Zeugs ermöglicht Mitleiden und Verständnis. Gelungen auch das Programmheft (Dramaturg Dr. Peter Larsen), von rechts nach links zu lesen, mit jiddischem Glossar. Der Vorstellung voran gestellte Einspielungen (auf eine Art Ghettomauer) erinnern daran, wie viele Worte im Deutschen jiddischen Ursprung haben. Der Regisseur versteht es, aus dem Kaleidoskop genretypischer Einzelszenen ein schlüssiges Gesamtes zu machen, mit viel Humor, traumhaft schönen Bildern und sich selbst tragendem Tempo. Keine Mobilisierung der Abwehr bei den Zuschauern, die Pogromszenen in Anatevka verzichten auf Blut und ausufernde Gewaltdarstellung. Mazeltov!
Für die Ausstattung zeichnet Anita Rask-Nielsen verantwortlich. Die zeitgenössischen Kostüme führen in die bäuerliche Kleine-Leute-Welt des Shtetl, so unterschiedlich wie die Lebensweisen und Einkommensverhältnisse. Der Tallit ausgestattet mit den Tzitzit, Kippa und Rabinerborsalino, nichts fehlt dem bunten Völkchen. Über allem als durchgängiges Motiv die untere Hälfte eines Kreises, in den jeweils Jahreszeiten, Stimmungen, Situationen eingetragen werden. Die Drehbühne sparsam eingesetzt, dann aber um so eindrucksvoller. Der ländlichen Welt entsprechend, Holz als Hauptmaterial. Rask-Nielsen erweist sich als Meisterin des pars pro toto, eine Wand trägt eine ganze Szene, ein Holzwagen die ganzen Habseligkeiten. Zauberhaft die Traumszene des Tevje. Phantasie in weiß. Schon wie er mit seiner Golde schlafmützenbewehrt im Bett liegt (steht), als die Fabelwesen aus den Tiefen der Phantasie, spinnenbeinig und kopflos, die leintuchbewehrten Spukgestalten und die übergroße Zombiemetzgerin aus dem Jenseits erscheinen. Die vorzügliche Choreographie, die den Chor volkstanzen lässt, die jiddische Hochzeit authentisch macht und die Balletttänzer russisch akrobatisch mit Luftspagat und als konditionsstarken menschlichen Kreisel auf die Bühne bringt, von Sven Grützmacher und Peter Zeug.
Jens Bingert führt das Philharmonische Orchester der Stadt Trier einfühlsam durch die zeitlose Musik von Jerry Bock.
Alle überragend Pawel Czekala in der Rolle des Milchmann Tevje. Hohe Textverständlichkeit korrespondiert mit Ausdrucksstärke und einer großen, konzentrierten und wohlklingenden Stimme. Mit der Verpflichtung von Dunja Rajter gelang dem Haus ein Mediencoup. Immer noch ein Energiebündel, gegen das ihre drei erwachsenen Töchter manchmal wie schüchterne Jungfern wirken. Mit so viel erotischer Ausstrahlung, dass man Schwierigkeiten hat nach zu vollziehen, warum Tevje erst jetzt seine Liebe bekennt. Dunja Rajter wertet die Aufführung aus künstlerischer Sicht nicht auf, sie fügt sich in das durchgehend gute Niveau ein. Ihre Mezzostimme immer noch mit laszivem Touch. Eva Maria Günschmann eine überzeugende Zeitel, Antonia Lutz füllt die Rolle der Hodel ansprechend aus und Silvia Lefringhausen steht in der Rolle der Chava ihren Kolleginnen in nichts nach. Eric Rieger gibt dem Schneider Mottel Profil, Peter Koppelmann glaubwürdig in der Rolle des Revoluzzer Perschik, Alexander Ourth spielt den Fedja. Jürgen Orelly spricht als Lazar Wolf an, Vera Ilieva in der Rolle der Fruma Sara mit geringer Textverständlichkeit, aber großer Stimme. Sabine Brandauer offenbart urkomische Talente als Heiratsvermittlerin Jente. Hee-Gyong Jeong eine verschmitzte Oma Zeitel. Last not least Andras Magyar als Fiddler on the roof.
Das Haus bis auf den letzten Platz besetzt, an einem Dienstagabend. Man stimmt darin überein: Auch ohne Dunja Rajter hätte diese Inszenierung ihr begeistertes Publikum gefunden. Schon alleine wegen Pawel Czekala, den viele als den besten Tevje werten, den sie je erlebt haben. Aber stolz, einmal die Rajter live auf ihrer Bühne zu sehen, sind die Trierer schon. Langer, respektvoller Applaus für alle.