Buntes Treiben-Nozze di Figaro am Staatstheater Saarbrücken
Für opernnetz.de besucht Frank Herkommer die Inga Levant Inszenierung von Mozarts Hochzeit des Figaro und sieht eine komplexe, dadurch spannende Aufführung
Buntes Treiben
Der Griff zum guten alten Telefonhörer,Bartolos Schlaghosen, Figaro mit schlingernder Hippie-Kette, spätestens jetzt ist dem Besucher klar: Inga Levant hat Mozarts Opera buffa in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts verlegt. Vielleicht Big Apple, aber New York kann überall sein. Unten der Hausmeisterbereich für Susanna und Figaro, halb Vorratsraum, halb Arbeitsstätte. Die üppige Hochzeitstorte auf dem edlen Teewagen, der sich von der prosaischen Umgebung wie ein Fremdkörper abhebt. Die coincidentia oppositorum schlechthin: Andy Warhols Cambell's-Suppendosen neben der klassischen Wäschetruhe, wie sie bereits in der Uraufführung hätte stehen können, Versteck, Intrigantenstadel und Kifferasyl in einem. Die Waschmaschine, in die der Doktor seine Marcellina vom Rollstuhl schubst und die sich als ihr Bimini erweist. Darüber die feine Maisonettenwohnung, Graf und Gräfin gehören zur upper c lass. In der Mitte des Salons ein übergroßer, archaischer Holzkrieger, mit Helm und beeindruckendem Phallus, der sich bei Gelegenheit als Droh- und Schlaginstrument verwenden lässt. Die Wände zieren die Flowers von 1964, Warhol zwei. Der gläserne Lift, der dem feinen Herrn gelegentlich für einen Quicky dient, führt wie eine weitere Treppe nach oben in Bad und Ankleide. Und wenn die Ebenen durch Herunterfahren wechseln, erscheint eine vierte Etage, ganz oben in der intelligiblen Welt ist es leer, wenn die sinnliche ihr Recht fordert.
Inga Levant spielt ideenreich, fantasievoll und mit einem gehörigen Schuss anarchischem Humor mit Ebenen und Formen. Der moralische Zeigefinger bleibt eingefahren, Rollen werden gesprengt, und wenn die Mafiakugel mit brennender Lunte von Hand zu Hand wandert, weiß keiner, wen es zerreißen könnte. Durch Verdoppelung und Verfremdung gelingt es ihr, das bunte Treiben einerseits zu entwirren, andererseits sich platten Deutungen zu verweigern. Das kann anstrengend werden, denn ihre Regie erfordert vom Publikum die Fähigkeit, sich immer neu auf die Handlung selbst zu fokussieren. Antonio bringt nach Cherubinos Fenstersturz das beschädigte Bild der Pop Art-Ikone, aus dem Blumenpfleger wird ein Maler und schon hat er die Farbrolle in der Hand, eine Metabasis löst die nächste ab. Jedes Detail wird liebevoll in Szene gesetzt, wenn die Gräfin ans Geländer angekettet die Beziehungsunfähigkeit des Grafen widerspiegelt, ein herrschaftliches Kettensägenmassaker droht, und zum guten, unerwarteten Schluss sich die Dame des Hauses auch das Recht auf sexuelle Emanzipation heraus nimmt. Paare werden durch geschickte Personenführung verschiedenen Ebenen zugewiesen, Konstellationen, die das (kurze?) Glück zeigen der frisch zu Vermählenden, auf Parallelität verpflichtet, während je einer bei den beiden übrigen Paare durch Abwendung seine innere Verfasstheit zum Ausdruck bringt. Eine Regie, die einlädt, die herrliche Musik Mozarts mehr als einmal auf sich einwirken zu lassen. Dem genius loci des Staatstheaters Saarbrücken in der Ägide Dagmar Schlingmann verpflichtet: Spielwitz first.
Für das beeindruckende, ausdifferenzierte und regiedienliche Bühnenbild zeichnet Roni Toren verantwortlich. Die Kostüme als Botschaftsverstärker: Magali Gerberon zeichnet, ohne zu überzeichnen. Die der Tarnung dienenden Überwürfe mit Warhols „Flowers“ werden schnell zum Blumenbeet, verwandeln das Studio in den Garten, Frau Gräfin im betörenden Negligé, Cherubinos Travestien lassen die Hosenrolle vergessen. Der verrückte Musiklehrer wie der Professor aus Zurück in die Zukunft und der Figaro in einer viel sagende Patchwork-Hose. Tschüss, Einheitsmoral! Alles so bunt wie das Treiben auf der Bühne.
Erstmals hat der neue 1. Kapellmeister Andreas Wolf das Dirigat. Einfühlsam und mit verspielter Leichtigkeit, konzentriert, ohne angestrengt zu wirken, verschafft das Saarländische Staatsorchester dem Publikum einen Mozartgenuss, der mit begeistertem Applaus belohnt wird. Zum Klangerlebnis trägt die Regieentscheidung bei, den Chor von zwei Ebenen des Rangs singen zu lassen. Erstaunlich, wie klangvoll und dabei absolut präzise Jaume Miranda den relativ kleinen Chor in Szene setzt.
Die Protagonisten: Björn Waag überzeugt spielerisch wie sängerisch als schussorientierter Almaviva. Seine schöne Stimme ausgereift, konzentriert, viril und dabei elegant. Man hört die Schule Dietrich Fischer-Dieskaus. Mit Christiane Boesiger steht ihm ein ebenso eleganter wie ausdrucksstarker Sopran zur Seite. Ihre Stimme hat eine unverwechselbare Farbe, Charakter und Weite. Ebenso umjubelt Tereza Chynavova als herrlich agierender und einnehmend schön singender Cherubino. Ihr Stimme zeichnet sich durch ihre Klarheit und Reinheit aus. Auch mit der Besetzung der beiden weiteren Hauptrollen zeigt Levant eine glückliche Hand: Sofia Fomina, Mitglied im Ensemble, braucht sich weder spielerisch noch sängerisch hinter den Gästen zu verstecken. Als Susanna meistert sie alle Partien mit unangestrengter Höhe, erotischer Färbung und technischer Versiertheit. Ein Genuss auch Jiri Sulzenko in der Rolle des Figaro. Komödiantisch auf der Höhe, die Stimme des Pragers zugreifend, expressiv und gepflegt. Wohl dem Theater, das seine Nebenrollen mit solchen Protagonisten besetzen kann: Maria Pawlus als Marcellina, deren dramatische Wagnerstimme sich vom Mozartumfeld abhebt und damit der Rolle der Alten Glaubwürdigkeit verleiht. Hiroshi Matsui schafft es einmal mehr, als Bartolo aus einer Nebenrolle eine Persönlichkeit zu formen, die er mit sichtlichem Vergnügen spielt und mit seiner unverwechselbaren, weiten Bassstimme zu zeichnen. Wenn Jevgenij Taruntsov in der Doppelrolle als Don Basilio und Don Curzio Twist tanzend über die Bühne rauscht, tobt der Saal. Der einzige mit Triebverzicht, der in der Wäschetruhe sein Heil im Joint sucht. Seine schöne Stimme bringt sich immer noch durch ab und zu hörbar werdende Intonationsprobleme um noch größere Wirkung. Charme und Spielwitz, dazu eine ansprechende Stimme, Claudia Scheiner gibt der Barbarina Profil. Markus Jaursch ein wohl gestimmter, bis ans Überdrehte reichender Antonio.
Das Publikum gespalten. Die Protagonisten minutenlang gefeiert. Gellende Buhrufe, vereinzelte Bravos, viel Applaus für das Regieteam. Den einen war's zu erotisch (zotig), den anderen zu jetzig, den dritten zu viel Ablenkung. Die Freunde der Produktion waren über so viel Komplexität, Fantasie, Kreativität, Ironie und Witz, Geist und Anregung begeistert. Lange Nacht der Diskussionen. Was kann Kunst mehr erwarten?